Schleusen öffnen: Kapitel 14
Das war schwere Kost. Victor konnte nicht wirklich behaupten, alles von dem verstanden zu haben, was ihm da gerade erzählt worden war: Nicht nur, dass es eine andere Welt gab, von deren Existenz er bis vor zwei Tagen nicht die geringste Ahnung gehabt hatte. Jetzt war es auch noch eine Welt, in der einer der schlimmsten Männer einen der schlimmsten aller Kriege gewonnen hatte. Seit über siebzig Jahren wurde diese Welt von ihm und seiner Gefolgschaft terrorisiert. Schwere Kost, verdammt schwer zu verdauen.
Ralph hatte ein Einsehen und schlug vor, erst einmal eine Pause einzulegen und etwas zu essen zu machen, das leichter bekömmlich sei. Während er sich in die Küche zurückzog, blieben Victor und Charlie im Wohnzimmer auf der Matratze sitzen.
»Verstehst du jetzt, warum ich dir davon nicht erzählen konnte?« fragte Charlie. »Bei uns muss man sehr vorsichtig sein und sich genau überlegen, wem man was sagt. Es ist sehr gefährlich.«
»Seit wann kannst du das?« fragte Victor.
»Weltenwandern? Eigentlich schon immer. Ralph hat mich schon mitgenommen, als ich noch ganz klein war.«
»Meinst du, ich könnte das auch lernen?«
Charlie zuckte mit den Schultern.
Victor dachte einen Moment nach. Selbst in fremde Welten gehen zu können, das klang schon toll. Aber irgendwie machte ihm die Vorstellung auch Angst. Was er über Charlies Welt gehört hatte, machte ihm Angst.
Aber da war noch mehr. Ein seltsamer Gedanke nahm Gestalt an. Es ging nicht nur darum, dass Charlies Welt von gefährlichen Nazis beherrscht wurde und deshalb alles so anders und fremdartig zu sein schien. Die Frage war doch eher…was dort gleich war. Sie hatten ihm gesagt, dass nicht alles anders sei, dass es ein Köln gab, und es gab sogar seine Straße. Sein Haus hatte er allerdings nicht sehen können, als er auf dem Dach war… Wo lebten seine Adoptiveltern in dieser anderen Welt? Gab es dort seine Adoptiveltern überhaupt? Was war mit ihm in dieser anderen Welt? Gab es ihn ein zweites Mal? Konnte er sich dort selbst begegnen?
»Hast du hier schon mal jemanden getroffen, den du aus deiner Welt kennst?« fragte er atemlos.
Aber Charlie verstand seine Frage nicht. »Ich hab dir doch gesagt, dass normale Leute nicht in andere Welten gehen können.«
»Das meine ich nicht. Ich meine… Gibt es alles doppelt? Auch die Menschen?«
Charlie schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Aber wenn du wissen willst, ob es hier noch eine Charlie gibt, dann muss ich dich enttäuschen: Ich bin einzigartig!«
Aber das half Victor nicht wirklich weiter.
Eine Weile später steckte Ralph seinen Kopf durch die Wohnzimmertür und rief sie in die Küche zum Essen. Er hatte Bratkartoffeln gemacht. Die besten Bratkartoffeln, die Victor je gegessen hatte, Marias eingerechnet, und die waren wirklich sehr gut. Hungrig langte er zu.
»Hast du schon mal jemanden hier getroffen, den du aus unserer Welt kennst? Einen Doppelgänger?« fragte Charlie kauend ihren Vater.
Ralph schüttelte mit dem Kopf und wischte sich dann den Mund ab. »Wolltest du das wissen?« fragte er Victor.
Der nickte. Zum Sprechen war sein Mund viel zu voll.
»Kluge Frage«, sagte Ralph. »Theoretisch haben die Menschen ein alter ego in den anderen Welten. In einigen Fällen ist das auch praktisch der Fall. Nimm Adolf Hitler: Den gab es nachweislich in vielen Welten, der hat nicht nur in unser beider sein Unwesen getrieben. Aber im Einzelnen ist es meist so, dass sich die Menschen über die Zeit gesehen doch zu unterschiedlich entwickelt haben.«
»Was heißt das?« fragte Victor.
»Nimm deine Mutter. Hier hat sie deinen Vater kennen gelernt und mit ihm hier ihr Leben eingerichtet. Und dann haben sie dich adoptiert. In einer anderen Welt ist ihr dein Vater vielleicht gar nicht begegnet, sie hat vielleicht einen anderen Beruf ergriffen, ist in eine andere Stadt gezogen. Vielleicht wurde sie aber auch gar nicht geboren, weil schon ihre Eltern sich gar nicht kennen gelernt haben. Verstehst du? Die Möglichkeiten sind vielfältig, es steht nicht irgendwo geschrieben, dass die Dinge sich nur auf eine bestimmte Weise entwickeln dürfen.«
Das konnte Victor nachvollziehen.
»Aber eins scheint sicher: Dich wird es nur einmal geben. Du stammst offensichtlich von mindestens einem Weltenwanderer ab, und die gibt es definitiv nur einmal.«
Victor musste lächeln. Also war nicht nur Charlie einzigartig. Der Gedanke gefiel ihm.
»Und wie viele Welten gibt es?« fragte er schließlich.
»Weißt du, wie groß das Universum ist?«
Victor zuckte mit dem Schultern. »Unendlich?«
Ralph nickte ihm lächelnd zu.
Nach dem Essen verteilte Ralph noch eine Runde Schokolade.
»Hm!« machte Charlie. »So gute Schokolade gibt es bei uns auch nicht.«
»Wir müssen noch über etwas sehr Ernstes reden«, sagte Ralph dann zu Victor. »Es ist kein Zufall, dass Charlie und du, dass ihr euch kennen gelernt habt.«
Das ließ Victor glatt die wirklich gute Schokolade vergessen. »Nicht?« fragte er.
»Es hat nichts damit zu tun, dass ihr Freunde geworden seid und auch bleiben sollt. Aber hast du dich denn nicht auch schon gefragt, warum wir ausgerechnet gerade jetzt in deine Straße gezogen sind?«
Darüber hatte Victor in der Tat noch nicht wirklich nachgedacht, aber das sagte er nicht. Er schwieg.
»Es ist schon einige Zeit her, da war ich mal bei dir zu Hause. Und ich glaube, ich habe dich dort auch gesehen. Deine Mutter hat ein Fest gegeben, es waren viele Künstler und Kunsthändler eingeladen.«
Viktor nickte. Diese Art von Fest war ihm nur zu gut bekannt.
»Ich war als Kunsthändler dort und habe ein gutes Geschäft abgeschlossen. Eigentlich wollte ich schon gehen, da habe ich jemanden bei euch gesehen, den ich schon sehr lange kenne. Er war mit deinem Vater verabredet, und deine Mutter war deswegen nicht sehr begeistert.«
Victor nickte wieder. Auch solche Szenen kannte er sehr wohl.
»Den Mann, der zu deinem Vater gekommen ist, kenne ich unter dem Namen Arthur. Er ist wie wir.«
»Was meinst du?« fragte Victor, obwohl er sich die Antwort bereits denken konnte.
»Er stammt aus meiner Welt. Aber seine Absichten sind keine guten.«
»Der Finstere Gast«, hauchte Victor.
»Der Finstere Gast«, bestätigte Charlie.
»Mein Vater…«, hauchte Victor.
»Dein Vater«, sagte Ralph, »macht mit einem Weltenwanderer Geschäfte.«
Das saß. Victor hatte das Gefühl, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Er schnappte nach Luft: »Mein Vater weiß von den Nazis und all dem?«
»Das wissen wir nicht«, sagte Ralph beschwichtigend. »Eigentlich wissen wir nur sehr wenig.«
»Leider haben wir ja nur wenig verstanden«, sagte Charlie und meinte damit ihre Spionageaktion.
»Schlimm genug, dass ihr beide da mit reingezogen wurdet«, sagte Ralph entschuldigend. »Ich konnte mich bei euch nicht mehr blicken lassen, Arthur würde mich sofort erkennen.« Dann wurde er streng. »Aber damit muss jetzt Schluss sein. Ich möchte, dass ihr beide jetzt nur noch Sachen macht, die man in eurem Alter halt so macht. Keine Spionage mehr, habt ihr verstanden?«
»Mein Vater kennt einen Weltenwanderer?« Victor hatte gehört, was Ralph gerade gesagt hatte, aber gedacht hatte er immer wieder nur das eine: »Mein Vater kennt einen Weltenwanderer?«
»Ich weiß nicht, ob dein Vater weiß, wer Arthur ist. Ich könnte mir gut vorstellen, dass er keine Ahnung hat.«
»Aber was macht er dann mit ihm?«
»Das ist die große Frage!« rief Ralph. »Ich könnte mir gut vorstellen, dass dein Vater denkt, er würde wieder mit dem Militär zu tun haben.«
»Militär?« Victor traute seinen Ohren nicht. »Mein Papa hat Tauchanzüge hergestellt.«
»Ja, und was glaubst du, für wen die waren?« Dann erinnerte sich Ralph wieder daran, dass er mit einem Jungen sprach. Verständnisvoller erklärte er: »Diese Tauchanzüge, die ihre Träger auf Körpertemperatur halten, das war ein Auftrag der amerikanischen Regierung. Dagegen ist ja auch nicht viel zu sagen. Dein Vater ist halt sehr gut in dem, was er so macht. Was die Amerikaner damit genau anstellen wollen, wer weiß das schon so genau?«
Victor dachte darüber nach. »Und du meinst, mein Vater denkt, der Finstere Gast sei ein Amerikaner?«
»Das oder von irgendeiner anderen Regierung. Aber das soll jetzt nicht mehr deine Sorge sein.«
Wieder dachte Victor nach. »Aber wer ist er wirklich?«
»Niemand, über den du dir deinen Kopf zerbrechen solltest.«
»Aber er trifft meinen Vater!« rief Victor aufgebracht.
»Ich weiß«, sagte Ralph, »und deshalb werde ich mich jetzt darum kümmern. Alleine«, betonte er.
»Das ist jetzt so eine Erwachsenensache«, meldete Charlie sich leichthin zu Wort.
Ralph ergänzte: »Versprochen, Victor: Ich werde mich darum kümmern. Und ich werde dafür sorgen, dass alles gut wird, okay?«
Aber Victor war sich nicht so sicher, ob das so okay war.
Autorin: Britta Kretschmer, www.mehr-welten.de
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