Mehr Welten Jugendbuch: Schleuse in die Parallelwelten

Kapitel 5

Der Plan sah wie folgt aus: Am folgenden Nachmittag, einem Freitag, würden sie Maria erzählen, dass Charlies Vater überraschend zu einer Geschäftsreise aufbrechen musste, und sie fragen, ob Charlie deshalb über Nacht bleiben könne. Maria würde ihr das nicht verwehren, ihr im Gegenteil das schönere der beiden Gästezimmer zurechtmachen, da war Victor sicher.

Dann mussten sie es schaffen, irgendwie ungesehen in das Arbeitszimmer von Victors Vater einzudringen und dort das mit einem Klebestreifen manipulierte Walkie-Talkie zu verstecken.

Die Diskussion, wo sie es verstecken sollten, nahm relativ viel Zeit in Anspruch, da ja nur Victor die Örtlichkeiten kannte, sie sich aber vorher entschieden haben sollten, um möglichst schnell aus dem Arbeitszimmer wieder heraus zu sein.

Schließlich einigten sie sich auf den Aktenvernichter, der neben dem Schreibtisch auf dem Boden stand. Der sah aus wie eine kleine Kommode mit einer gefräßigen Öffnung an der Oberseite und einer Tür an der Vorderfront, hinter der man an den Plastiksack herankam, in dem die Papierstreifen aufgefangen wurden. Allzu oft musste dieser Plastiksack nicht ausgewechselt werden und es galt nicht zu befürchten, dass jemand das in den nächsten Tagen tun würde. Abgedeckt durch den Sack mit dem Papiermüll würde das kleine Gerät so auf keinen Fall auffallen und über etwaige Ton- oder Sendeprobleme machten sie sich keine Sorgen. Auch wenn sie das in Anbetracht der Tatsache, dass dieses Möbel aus Metall war, durchaus hätten tun sollen.

Schließlich würden sie sich auf die Lauer legen und warten. Der Finstere Gast kam entsprechend seines Namens immer im Dunklen, also im Laufe des Abends, niemals aber erst in der tiefen Nacht.

Maria hatte tatsächlich nichts dagegen, dass Charlie bei ihnen über Nacht bleiben wollte, und tatsächlich bereitete sie ihr das hübschere der beiden Gästezimmer vor, das direkt gegenüber Victors Zimmer lag.

Auch war es nicht schwierig, in das Arbeitszimmer zu gelangen. Wenngleich der Raum aus Schallschutzgründen gleich zwei Türen besaß, pflegte sein Vater hier nicht abzuschließen. Zwar brachte er manchmal Unterlagen aus seiner Firma mit nach Hause, die einer gewissen Geheimhaltung unterlagen, da sie betriebswirtschaftliche Daten beinhalteten oder sich auf neue Entwicklungsideen bezogen. Er besaß aber einen Safe, in dem sie sicher deponiert werden konnten.

Wenn er also auch sein Büro nicht abschloss, so hatte Hannes Schindler es trotzdem nicht gerne, wenn Victor dieses ungefragt betrat. Und mit absoluter Sicherheit hätte er es überhaupt nicht gutgeheißen, wenn er gewusst hätte, dass sein Sohn hier eine Abhörmöglichkeit installieren wollte.

Vater und Mutter waren noch an ihrer jeweiligen Arbeitsstätte, Maria saugte gerade das große Wohnzimmer, da stahlen sich Charlie und Victor in das Allerheiligste von Hannes Schindler und waren kurz darauf wieder in Victors Zimmer.

Nun hieß es warten. Den Nachmittag verbrachten sie mit einer Runde Schach, einem Spiel, das Charlie be­herrschte wie kaum eine andere ihres Alters. Aber auch Victor war ein guter Schachspieler, wenngleich er ge­wöhnt war, gegen seinen Computer zu spielen, der erheblich schneller zog als Charlie. Die Partie endete Remis, und als sie eine zweite eröffnen wollten, wurden sie bereits zum Abendessen gerufen.

Zuvor war Charlie immer bereits weg gewesen, wenn die Schindlers von der Arbeit nach Hause kamen, sodass dieses Abendessen tatsächlich die erste Gelegenheit für Victors Eltern war, das Mädchen, von dem sie bereits so viel gehört hatten, endlich kennenzulernen.

Victor fand das plötzliche Interesse seiner so geschäftigen Eltern an seiner Freundin reichlich unangenehm. Charlie aber meisterte das Essen auf die für sie so typische Weise: Sie zeigte sich höflich und wich allzu weitgehenden Fragen durch charmante Gegenfragen aus. Wenn diese Strategie Victors Eltern auffiel, dann ließen sie sich das nicht anmerken; vielmehr waren sie beide von der Freundin ihres Sohnes angetan. Hannes zwinkerte Victor sogar einmal über den Tisch zu, als sie gemeinsam über eine Bemerkung von Charlie lachten.

Nachdem sie diesen Teil des Abends also gut hinter sich gebracht hatten, entschieden sie, besser nicht wieder in Victors Zimmer zu gehen. Zu groß war die Gefahr, dort die Ankunft des Schleichers zu verpassen – nicht umsonst war dies der Zweitname des Finsteren Gastes. Also nahmen sie sich einen Ball und gingen damit in den Garten, immer einen Blick auf das Arbeitszimmer des Vaters gerichtet. An der Rückfront der Garage war ein Basketballkorb montiert und auf den warfen sie nun den Ball. Tatsächlich erwiesen sich beide als einigermaßen untalentiert, was Charlie zu der Frage brachte, weshalb Victor überhaupt einen Basketballkorb habe, wenn er doch gar nicht spielen möge.

»Meine Eltern dachten, dass ein Junge einen Korb haben sollte.« Und nach einem weiteren fehlgeschlagenen Wurf fügte er hinzu: »Sie hielten es ja auch für eine tolle Idee, mir Walkie-Talkies zu schenken.«

»Ist es doch auch!« rief Charlie, die sich den Ball holte.

»Ja, das ist nur das erste Mal, dass ich sie mit jemandem benutzen kann.«

Statt den Ball zu werfen, schaute Charlie ihn lächelnd an. »Wenn du magst, können wir noch oft damit spielen.«

Victor lächelte nun auch. »Wirf!«

Allzu lange mussten sie sich dann nicht mehr mit dem Ball abmühen, denn plötzlich ging im Arbeitszimmer das Licht an und gleich darauf wurde die Außenjalousie heruntergelassen.

Schnell holte Victor sein Walkie-Talkie heraus und schaltete es an. Aber zu seinem Entsetzen gab das Gerät außer einer Menge statischem Rauschen keinen klaren Ton von sich. Enttäuscht schauten sie einander an.

»Was jetzt?« fragte Charlie.

»Ich weiß nicht«, antwortete Victor, »vielleicht müssen wir näher ran.«

Also schlichen sie auf das Fenster des Arbeitszimmers zu und hockten sich vorsichtig ins Blumenbeet. Aber auch hier war der Empfang nicht besser. Immerhin, wenn man sich das Gerät ganz nah ans Ohr hielt und sich konzentrierte, konnte man erahnen, dass sich auf der anderen Seite der Wand zwei Menschen miteinander unterhielten.

»Mist!« fluchte Charlie leise, aber doch viel zu laut. »Ich versteh kein Wort.«

»Psst!« machte Victor, der sich das Gerät an sein Ohr hielt.

»Ich will auch!« flüsterte Charlie und drängelte sich mit ihrem Ohr an das Walkie-Talkie.

»Sie hatten zugesagt, …ototyp heute test…«, hörten sie eine tiefe Stimme sagen.

»…ige Probleme mit … kann Ihnen versprechen …ächste Woche …«

Das war Victors Vater. Nur klang er gar nicht so, wie Victor ihn kannte. Abgesehen davon, dass die Übertragung seine Stimme verzerrte, schwang da eine Unterwürfigkeit mit, die Victor bei seinem Vater noch nie erlebt hatte.

»Wie wollen …iefertermin einhalten, wenn Sie erst …?«

»Ich werde …«

Victor und Charlie schauten sich schulterzuckend an. Damit war nicht viel anzufangen. Und genauso ging es noch eine ganze Weile weiter.

»Verstehst du, worüber die reden?« fragte Victor verzagt. Für ihn machte das, was er da hörte, überhaupt keinen Sinn.

»Irgendein Liefertermin, glaube ich. Dein Vater sollte heute etwas fertig haben, hat er aber nicht, und der Schleicher ist ganz schön sauer deswegen.«

Beeindruckt schaute Victor seine Freundin an.

»… nicht vergess… Nanotechno… Ihre Angaben bezog…« Hannes Schindler klang nun aufgebracht.

»Ihre Machbarkeits… Umsetzung der Technolo…«

»…gaben bezogen … andere Masse …«

»Was bedeutet Nanotechno?« fragte Charlie leise.

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich Nanotechnologie. Damit hat mein Vater die Tauchanzüge gemacht«, wisperte Victor zurück.

Charlie schüttelte den Kopf und schaute Victor an, als wollte sie sagen: Versteh ich nicht.

»Ich weiß auch nicht«, flüsterte Victor. »Ich glaub, das ist irgendwas sehr Kleines, was Dinge verändert.« Er schüttelte selbst den Kopf. Noch nie hatte er sich wirklich Gedanken darum gemacht, geschweige denn versucht, es einem anderen zu erklären.

»… Metamat…wickelt, … funk…sätzlich … die Spezifi…«, erläuterte Hannes Schindler weiterhin. Leider war das genauso wenig zu verstehen wie alles andere zuvor.

»Erzählen Sie … nix von Physik!« donnerte die tiefe Stimme.

»Und Metamat? Was heißt das?« fragte Charlie.

»Woher soll ich das wissen?« Victor war jetzt genervt. Was sollte das Ganze? Sie versuchten, seinen Vater bei etwas auszuspionieren, das sie nicht verstehen konnten. Wo lag da der Spaß? »Lass uns abhauen«, schlug er also vor, erntete dafür von Charlie aber nur ein unwirsches »Pst!« Sie riss das Walkie-Talkie an sich und presste es an ihr Ohr.

»Sie woll…öglich mach…!«

»Es ist mög…!«

»Lass uns gehen, ich hab keine Lust mehr«, drängte Victor noch einmal.

»…ische Camouflage… kurzem …icht denkbar!«

Charlie zuckte zusammen. Und auch in ihrem Gesicht zuckte es. »Was?« sagte sie lauter als gewollt. »Was hat er da gerade gesagt?«

»Lass uns endlich gehen!« Nun wurde auch Victor ein wenig lauter.

Charlie schaute ihn einen Moment an und sah dabei aus, als hätte sie einen Geist gesehen. Dann nickte sie und gemeinsam zogen sie sich in den Garten zurück.

»Das war doof«, maulte Victor. »Wir sind kein Stück schlauer als vorher.«

Charlie schaute ihn gedankenverloren an, schüttelte dann den Kopf und sagte für Victor völlig unvermittelt: »Ich muss gehen.«

»Was? Warum?«

Aber Charlie wiederholte nur: »Ich muss gehen.« Und damit ließ sie ihn einfach stehen.

»Hey!« rief Victor ihr verblüfft hinterher, aber da war Charlie auch schon fast um das Haus herumgelaufen.

Enttäuscht und verärgert ging er zurück ins Haus und lief dort direkt in die Arme von Maria, die sich auf den Heimweg machen wollte. Sie sah seinen Gesichtsausdruck. »Was ist passiert?« fragte sie. »Und wo ist deine Freundin?«

»Weg.« Victor wollte an ihr vorbei zur Treppe gehen.

»Weg? Du meinst nach Hause? Habt ihr euch gestritten?«

Victor antwortete nicht.

Maria schüttelte den Kopf.

»Ihr Vater ist doch …« Sie warf einen Blick auf die Garderobe, an der noch Charlies Jacke hing. In der Jackentasche steckte ein Haustürschlüssel. »… gar nicht zu Hause«, vollendete sie ihren Satz. »Ohne ihren Schlüssel kommt sie doch gar nicht rein. Komm, wir gehen hinterher und bringen ihr den.«

Victor schnaubte genervt. Sie war völlig unvermittelt weggelaufen, warum sollte er ihr jetzt hinterherlaufen? Aber Marias Blick war unmissverständlich. Ihm würde nichts anderes übrigbleiben, als ihr zu folgen.

Als sie das Haus verlassen hatten, warf Maria einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Oh je, meine Bahn!« sagte sie und schaute einmal zweifelnd ans Ende der Straße, wo Charlies Haus stand, und dann in die entgegengesetzte Richtung, wo es zu ihrer Straßenbahnhaltestelle ging. Schließlich gab sie Victor den Schlüssel. »Victor, ich muss meine Bahn kriegen. Sei ein guter Junge und bring ihr den. Und dann kannst du das auch gleich mit eurem Streit klären.«

Wieder konnte sich Victor nur zu einem wenig begeisterten Grunzlaut durchringen. Dennoch trottete er die Straße hinunter, während Maria in die entgegengesetzte Richtung ging.

Als er vor Charlies Haus stand, war von Charlie nichts zu sehen. Das Haus selbst war dunkel, nirgendwo ein Licht zu sehen – allerdings waren auch alle Fenster mit Vorhängen und Jalousien verhängt. Er warf den Schlüssel ein paar Mal in die Luft und ließ ihn dabei fast fallen. Was sollte er jetzt tun? Vielleicht gab es auf der Seite mit der Garage noch einen Nebeneingang? Vorsichtig ging er um das Haus herum, konnte aber außer einer verschlossenen Terrassentür, die ebenfalls verhangen war, keine weitere Tür entdecken.

Schließlich ging er zurück zur Haustür und klingelte nach kurzem Zögern. Nichts passierte. Er klingelte noch einmal, diesmal länger. Wieder nichts. Kein Licht ging an, keine Tür wurde geöffnet. Keine Charlie. Kurz überlegte er, ob er noch ein drittes Mal klingeln sollte, verwarf dann aber den Gedanken. Irgendwie war das alles ein wenig unheimlich. Was auch immer sie darin machte, wie auch immer sie dort hineingekommen war, es war nicht sein Problem.

Vielleicht ist sie ja auch zu ihrer Mutter gegangen, dachte er dann und fragte sich im nächsten Moment, ob sie überhaupt eine Mutter hatte. Er wusste es nicht, sie hatte ihm noch nie davon erzählt. So wie sie auch sonst nicht viel erklärt hatte.

Zum Beispiel, warum sie gerade einfach so abgehauen war.

Ärgerlich steckte er den Schlüssel in seine Hosentasche und ging wieder nach Hause.