Schleusen öffnen: Kapitel 15
Als Victor an diesem Abend nach Hause ging, hätte er ein Himmelreich dafür gegeben, nun alleine sein zu können. Zu viel rotierte in seinem Kopf, über das er erst einmal in Ruhe nachdenken wollte. Doch seine Eltern wollten ihm diesen Gefallen nicht tun. Er hatte schon bei Charlie gegessen, ihr Vater habe gekocht? Prima, da konnte er ihnen ja gleich davon erzählen. Und ein Happen von Marias fantastischem Essen könnte seinen Rippen nur gut tun.
Viel von dem fantastischen Essen bekam er wirklich nicht hinunter, und erzählen mochte er gleich erst recht nicht. Was hätte er sagen sollen: Dass er in einem von widerlichen Nazis terrorisierten Deutschland gewesen sei und erfahren habe, dass sein Vater mit einem dubiosen Weltenwanderer Geschäfte betrieb? Hätten sie ihm das geglaubt? Oder noch schlimmer: Hätten sie freudig genickt und dann »Heil Hitler!« gerufen?
Schließlich war es sein Vater, der das Gespräch übernahm. Wie es denn um seinen Aufsatz stünde.
»Mein Aufsatz?« Victor wusste bei all der Aufregung wirklich nicht, wovon sein Vater da sprach.
»Na, deswegen warst du doch in meinem Arbeitszimmer. Der Aufsatz für die Schule. Worum ging es doch gleich?«
Jetzt erinnerte Victor sich wieder. Aber hatte er auch ein Thema genannt? Er glaubte, nicht. Und dann sprach er auch schon, ohne vorher darüber nachgedacht zu haben, ob das auch eine gute Idee war: »Über unsere Väter. Wir sollen einen Aufsatz darüber schreiben, was unsere Väter arbeiten.«
»Interessant!« sagte Hannes Schindler und schaute dann seine Frau an. »Wir haben früher eher über den letzten Schulausflug geschrieben, oder wie war das bei dir?«
»Typisch mal wieder, dass es um den Beruf der Väter geht. Als würden Mütter niemals arbeiten«, schimpfte Barbara und fragte dann ihren Sohn: »Weißt du schon, was du schreiben willst?«
Langsam wurde Victor bewusst, was er da angerichtet hatte. Er musste jetzt improvisieren: »So viel weiß ich ja nicht.«
»Na, von den Tauchanzügen weißt du aber schon«, sagte sein Vater und war damit ganz in seinem Metier. Nun dozierte er: »Dass wir Trockenanzüge geschaffen haben, in denen der Träger, wie der Name schon sagt, nicht nass wird. Normalerweise hält bei solchen Trockenanzügen eine Luftschicht zwischen Stoff und Körper den Taucher warm, aber diese Luftschicht sorgt auch für Auftrieb. Also dafür, dass der Taucher Richtung Wasseroberfläche zurückgedrückt wird. Und weil er das nicht unbedingt will, muss er viele Gewichte an sich tragen, und das alles ist doch recht unkomfortabel.« Mit merklichem Stolz in der Stimme fügte er hinzu: »Unsere Anzüge halten auch ohne diese Luftschicht warm, also braucht der Taucher weniger Gewichte.«
»Hm«, machte Victor vorsichtig, »aber ich weiß gar nicht, wie ihr das gemacht habt. Hat das was mit Nanotechnologie zu tun?«
»Ja, klar, aber musst du denn so in die Tiefe gehen? Das versteht doch von euch Kindern noch keiner.«
Nun wurde Victor mutiger. »Aber vielleicht kannst du es mir erklären?«
»Hm«, machte Hannes, »schwierig. Aber vielleicht hilft dir das: Wir sind heute in der Lage, Materialien herzustellen, wie sie in der Natur nicht vorkommen.«
Darüber dachte Victor ernsthaft nach. Diese Erklärung erschien ihm nicht schlüssig. »Jeans kommen in der Natur auch nicht vor.«
Sein Vater lachte. »Du hast recht, das war eine schlechte Erklärung!« Dann wurde er wieder ernster. »Es gibt keine Jeans-Bäume, richtig. Aber es gibt Baumwolle, und aus der werden Jeans gemacht. Und jetzt stell dir vor, ich würde diese Baumwolle so verändern, dass sie sich selbst reinigt, wenn du mal wieder im Dreck gespielt hast. Was glaubst du, wie sehr mir Maria dafür die Füße küssen würde!« Das fand er offensichtlich komisch und fing wieder an zu lachen.
»Das könntest du?« fragte Victor staunend.
»Im Prinzip schon. Man müsste etwas länger darüber nachdenken, wie man es machen soll, aber ja, im Prinzip schon.«
Victor wurde noch mutiger. »Wenn Maria dir die Füße für die Jeans küssen würde – wer hat dir dann die Füße für die Tauchanzüge geküsst?«
Diese Frage veranlasste Hannes, seinen Sohn etwas länger nachdenklich anzusehen. »Meine Auftraggeber«, sagte er schließlich ausweichend und fügte dann hinzu: »Die Bekleidungsindustrie ist ja leider nicht so begeistert.«
»Das wird schon noch«, mischte sich nun Barbara wieder ein, und Victor hatte das Gefühl, nun besser nicht weiterzufragen.
Noch etwas anderes brannte ihm unter den Nägeln. Diese Frage stellte er aber erst, als sein Vater das Esszimmer verlassen hatte und Maria bereits den Tisch abdeckte. »Wer war meine echte Mutter?«
Ungeschickter hätte er seine Frage kaum formulieren können. Echt bedeutete, dass er Barbara für unecht hielt. Die musste einmal keuchen.
»Das hat er bestimmt nicht so gemeint«, verteidigte Maria ihn, ohne dass Barbara irgendetwas gesagt hatte.
»Ich weiß«, sagte sie leise.
»Du wolltest wissen, wer deine leibliche Mutter war, nicht wahr, Victor?«
Victor nickte verschüchtert.
»Was möchtest du wissen, mein Sohn?« fragte Barbara.
»Alles«, sagte Victor.
»Viel kann ich dir aber nicht sagen. Man erfährt kaum was, wenn man ein Kind adoptiert.«
»Wie war ihr Name?« fragte er.
»Noch nicht einmal das kann ich dir sagen. Und was ich weiß, habe ich dir eigentlich schon gesagt.«
»Dass sie gestorben ist, als ich noch ganz klein war.«
»Ja. Ihr beide wart im Krankenhaus, ich glaube, im Sankt Elisabeth Krankenhaus.«
»Warum? Was hatte sie?«
»Auch das weiß ich nicht. Aber sie muss es gewusst haben.«
»Was muss sie gewusst haben?«
»Dass sie sehr schwer krank war. Sonst hätte sie dir nicht den Umschlag hinterlassen.«
Von dem Umschlag hatte sie ihm schon erzählt. Seine leibliche Mutter hatte einen Umschlag hinterlassen, auf dem stand Für meinen Sohn Victor zu seinem 18. Geburtstag. Bislang hatte Victor das so akzeptiert. Warum auch nicht? Er hatte eine neue Mutter und einen neuen Vater, und alle waren gut zu ihm. Aber jetzt sahen die Dinge doch ein wenig anders aus.
»Kann ich den nicht schon jetzt haben?« fragte er deshalb.
Die Frage überraschte Barbara doch sehr. »Schatz! Deine Mutter wird sich etwas dabei gedacht haben, dass du ihn erst mit achtzehn bekommen sollst.«
»Aber ich hätte ihn jetzt gerne«, beharrte er.
»Aber warum denn auf einmal?« fragte sie aufgebracht und wartete seine Antwort nicht ab. »Ich hab dir doch mal erklärt, dass man die Wünsche von Verstorbenen respektieren muss, erinnerst du dich noch? Als dein Opa gestorben ist. Er wollte auf jeden Fall, dass eine Musikkapelle bei seiner Beerdigung spielt, weißt du noch? Deine Oma mochte das gar nicht. Aber dein Opa hat es sich gewünscht, also haben wir eine Kapelle bestellt, und die hat für ihn Ich mööch zo Foß noh Kölle jonn gespielt. Die Trauergäste fanden es seltsam, ein Karnevalslied zu hören, aber dein Opa wollte es so.«
Traurig und enttäuscht nickte Victor.
»Und jetzt müssen wir die Wünsche deiner Mutter respektieren. Du wirst dich also noch ein wenig gedulden müssen«, sagte sie abschließend und stand auf. »Maria, ich brauche Sie dann gleich noch für die Partyplanung nächste Woche. Kommen Sie in mein Arbeitszimmer, wenn Sie hier fertig sind.« Sie nickte ihrem Sohn noch einmal zu und ging.
Victor blieb noch einen Moment am Tisch sitzen und sah Maria dabei zu, wie sie den Tisch abräumte. Die sah ihrerseits seinen traurigen und irgendwie von der ganzen Welt überforderten Gesichtsausdruck. Er tat ihr leid.
»Du würdest das wirklich gerne wissen mit deiner Mutter, oder?« fragte sie leise.
Victor nickte.
»Das kann ich verstehen. Ich habe meinen Vater erst kennen gelernt, da war ich bereits über zwanzig. Abgesehen davon, dass er meine Mutter verlassen hatte, als ich noch ganz klein war, war er eigentlich ganz nett. Ich hätte mir gewünscht, ihn früher gekannt zu haben.«
Victor verstand nicht, warum sie ihm das jetzt erzählte. Irgendwie half ihm das auch nicht weiter.
Maria schaute sich einmal um und setzte sich dann zu ihm. »Was meinst du, wo würden deine Eltern diesen Umschlag aufbewahren?«
Victor verstand noch immer nicht.
»Also, ich kann es natürlich nicht mit Gewissheit sagen, aber wenn ich deine Eltern wäre, dann wüsste ich, wo ich solche wichtigen Dokumente aufbewahren würde.«
»Ja?« fragte Victor aufgeregt.
»Na, ich würde sie in meinen Safe tun, wenn ich denn schon einen habe.«
»Der Safe in Papas Arbeitszimmer!« Victor hatte mit einem Schlag alle Traurigkeit vergessen.
»Der Safe im Arbeitszimmer deines Vaters«, bestätigte Maria. »Was würdest du sagen, wenn ich sagen würde, dass ich weiß, wo der Zettel mit dem Zahlencode ist, hm?«
Nun war Victor wirklich aufgeregt.
»Ich bin ja nicht nur die Haushälterin und deine Nanny. Ich bin ja auch Putzfrau hier. Und du glaubst gar nicht, was Putzfrauen nicht alles wissen.«
Der Safe wurde über einen Zahlencode geöffnet. Den sollte sein Vater eigentlich auswendig können. Da in dem Safe aber durchaus auch schon mal Unterlagen von seiner Frau gelagert wurden und die Probleme hatte, sich die Zahlenfolge zu merken, gab es einen Erinnerungszettel. Und der klemmte zwischen dem letzten und vorletzten Buch im obersten Bord des Regals, das neben dem Safe stand. Maria hatte es mit dem Staubwischen einmal sehr gründlich gemeint und darunter auch das Abstauben der Bücher verstanden, da war der Zettel ihr in die Hände gefallen. Allzu sehr gewundert hatte sie sich nicht über den Fund: Die meisten Menschen schrieben sich Zugangscodes und Passwörter auf, weil sie ihrem eigenen Erinnerungsvermögen nicht trauten. Oft lagerten sie diese Notizen dann auch noch in der Nähe der betreffenden Computer oder Safes, um ja nicht zu weit laufen zu müssen, falls der Blick auf die Notiz vonnöten war.
Nur leider war da im Moment kein Herankommen: Hannes saß selbst den ganzen Abend über an seinem Schreibtisch. Victor würde nichts anderes übrigbleiben, als darauf zu warten, dass er am nächsten Tag nach seiner Therapiestunde das Arbeitszimmer unbesetzt vorfinden würde.
Autorin: Britta Kretschmer, www.mehr-welten.de
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