Mehr Welten Jugendbuch: Schleuse in die Parallelwelten

Kapitel 12

Charlie sah Victor erst am nächsten Tag wieder. Wie üblich wartete sie bereits auf der Straße auf ihn, als er aus der Schule nach Hause kam.

»Wir gehen heute zu mir«, sagte sie und dann setzte sie zu Victors Überraschung hinzu: »Aber zieh dir vorher andere Schuhe an.«

»Warum?« fragte er verdutzt, als er die Tür aufschloss.

»Mach einfach. Komm, wir suchen dir welche aus.«

Schließlich erklärte sie ihm doch noch, warum er seine Sneakers nicht anbehalten konnte. Vielleicht würden sie ihrem Zuhause einen Besuch abstatten und dort lief nun wirklich keiner in solchen Schuhen herum. Sie suchte ihm Halbschuhe aus, die Victor ganz fürchterlich fand, aber Charlie entschied, dass die gut seien. Seine Mutter hatte das auch gefunden, als sie sie ihm gekauft hatte.

Natürlich ließ Maria sie nicht gehen, ohne ihnen vorher einen Snack anzubieten, aber die beiden hatten es eilig. Also nahmen sie nur ein Brot auf die Hand und waren auch schon durch die Tür.

»Mein Vater möchte dich kennenlernen«, war alles, was Charlie ihm auf dem Weg erklärte. Ansonsten widmeten sie sich nur ihren Broten.

Und so sollte es dann auch geschehen. Als sie in das Haus kamen, stand dort in der Küche ein Mann. Er war nicht so groß wie Victors Vater, vielleicht ein wenig muskulöser, definitiv älter. Dennoch hatte er mehr Haare auf dem Kopf als Hannes, trug seine fast schwarzen Haare aber militärisch kurz geschnitten. Alles in allem besaß er auf den ersten Blick eigentlich nichts, das ihn in irgendeiner Form auffällig gemacht hätte. Abgesehen von dem etwas zerschlissenen Anzug vielleicht, der seine besten Jahre schon lange hinter sich gelassen hatte.

Und doch war da etwas, das Victor schüchtern werden ließ. Also blieb er in der Küchentür stehen, während Charlie an ihm vorbeiging und den Mann zur Begrüßung umarmte. Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und kam dann auf Victor zu. Kurz blieb er vor ihm stehen und schaute ihn von oben bis unten an. Dann streckte er seine Hand aus.

»Hallo Victor«, sagte er. »Mein Name ist Ralph.«

»Hallo.« Victor merkte, dass er wieder einen trockenen Mund bekam.

»Setz dich«, sagte Ralph und deutete auf den Stuhl, der näher am Fenster stand. Charlie hatte sich derweil auf den Kühlschrank gesetzt. Als Victor Platz nahm, schaute er sie unsicher an.

»Charlie hat mir erzählt, was gestern passiert ist. Was hat du dazu zu erzählen?« Ralph nahm sich den anderen Stuhl und zog ihn direkt vor Victor, sodass der sich zwischen seinem Gegenüber und dem Fenster eingeklemmt fühlte.

»Ich weiß nicht«, sagte er leise.

»Muss dich ganz schön überrascht haben.«

»Ja«, war alles, was Victor herausbrachte.

»Charlie hat gesagt, du bist ihr durch die Schleuse gefolgt. Und hast sie gesehen. Hast du eine Erklärung dafür?«

Victor blieb stumm.

»Victor, so wie Charlie es mir beschrieben hat, hat sie dich nicht mitgenommen. Du bist ihr einfach gefolgt. Das ist ein großer Unterschied. Und eine ernste Sache.«

Charlies Vater schaute ihn streng an. »Du wohnst bei Adoptiveltern?«

Victor nickte.

»Und über deine leiblichen Eltern weißt du nichts?«

Nun schüttelte Victor wieder den Kopf.

Ralph lehnte sich zurück und schaute Charlie an: »Nicht sehr gesprächig, dein Freund.«

Nun meldete sich zum ersten Mal Charlie wieder zu Wort: »Kein Wunder. Du machst ihm Angst.«

Dafür erntete sie von Victor einen grimmigen Blick.

»Stimmt das, mache ich dir Angst?« fragte Ralph, wartete die Antwort aber nicht ab. »Das tut mir leid, das wollte ich nicht. Es ist nur so, dass Leute wie wir sehr vorsichtig sein müssen. Und so was wie das mit dir jetzt, das habe ich noch nicht erlebt.«

»Aber es kann doch wirklich sein, dass er es von seiner Mutter hat. Oder seinem Vater.« Das war wieder Charlie.

»Ja«, sagte Ralph, »es ist die einzige Möglichkeit.«

Dann wandte er sich wieder an Victor. »Wir müssen versuchen, etwas über deine Eltern herauszufinden. Aber vorher möchte ich es selbst sehen.« Er stand auf. »Komm! Wir gehen jetzt in unsere Welt.«

Victor schaute ein wenig ängstlich zu Charlie.

»Sie bleibt hier. Nur wir beide gehen.«

»Ich warte auf euch hier.«

Charlie nickte ihm aufmunternd zu und so blieb Victor nichts anderes übrig, als Ralph zu folgen.

In der Garage gab Ralph ihm eine Jacke und eine Mütze. Er hatte beides aus dem alten Schrank geholt, der dort stand.

»Hier, zieh dir die über. Wir wollen zwar nicht lange bleiben, aber besser ist besser.«

Victor zog sich die Jacke an. Sie war ihm zu groß, außerdem roch sie nicht gut und war braun und hässlich. Und die Mütze rutschte ihm fast über die Ohren. Ralph lächelte, als er das sah.

Dann wurde er wieder ernst. »Auf der anderen Seite machst du genau das, was ich dir sage, okay? Keine Sperenzien.«

»Okay«, sagte Victor und beobachtete dann im Prinzip dieselbe Szene, die er schon tags zuvor bei Charlie gesehen hatte, nur dass es diesmal schneller ging. Ralph schloss nur kurz seine Augen, atmete einmal tief durch und dann bekam er denselben fokussierten Blick, den auch Charlie gehabt hatte. Mit dem flirrenden Murmel-Ton spürte Victor wieder, wie er seinen Körper verließ, und dann war sie auch schon da, die Schleuse.

»Geh«, sagte Ralph und drehte sich zu ihm um.

Victor zögerte einen Moment, machte dann aber doch einen Schritt vorwärts und ging vor Ralph in die andere Welt. Als er sich auf der anderen Seite umdrehte, stand Ralph schon hinter ihm und die Schleuse war geschlossen.

»Du kannst es wirklich«, sagte Ralph und schaute Victor interessiert an. »Kannst du mir sagen, wie es sich anfühlt?« Als Victor nicht sofort antwortete, sagte er: »Für mich ist es so, als würde mein Verstand sich von meinem Körper trennen. Es ist dann …« Eigentlich wollte er weitersprechen, aber er hatte gesehen, wie Victor zusammengezuckt war und ihn nun mit großen Augen anschaute. »Ist es bei dir auch so?«

Victor nickte.

»Und du kennst das schon länger?«

»Ich bin deswegen in Therapie«, hauchte Victor.

»In Therapie? Bei einem Arzt?«

»Sie sagen, es wäre eine Störung.«

Nun lächelte Ralph ihn sehr herzlich an. »Tja, jetzt weißt du, dass du nicht krank bist. Komm, ich will dir was zeigen!«

Ralph ging los und Victor folgte ihm reichlich verwirrt. Ich bin gar nicht krank! schoss es ihm durch den Kopf. Und das war dann auch das Einzige, was er denken konnte, während er hinter dem Mann herging, der ihm diese großartige Neuigkeit verkündet hatte. Ich bin gar nicht krank!

Ralph führte ihn zu einem Treppenhaus und dort ging es mehrere Stockwerke hinauf. Vom Gebäude selbst konnte Victor nicht viel sehen, es war einfach zu dunkel. Einzig erhaschte er einmal einen Blick in eine große Halle, in der zwei altertümliche Maschinen herumstanden. Die sahen ausgeschlachtet aus. Wofür sie einst mal gut gewesen waren, konnte Victor nicht erraten.

»Was ist das hier?« fragte er.

»Das war hier mal eine Werkzeugfabrik. Ist schon lange nicht mehr in Betrieb.«

Dann waren sie im obersten Stock angekommen. Dort gab es eine Klappe an der Decke, die Ralph mit der Schulter hochstemmte. Durch diese gelangten sie auf das Dach des Gebäudes. Ralph kletterte zuerst hoch und zog Victor dann nach.

Im ersten Moment war Victor geblendet. Bei ihm zu Hause war der Himmel ein wenig verhangen gewesen, hier aber schien die Sonne. Er wollte sich aufrichten, aber Ralph zog ihn zu sich herunter in die Hocke.

»Wir wollen hier nicht gesehen werden, okay? Also, schau dich um und sag mir, was du siehst.«

Das Erste, was Victor sah, war der andere Gebäudeteil, der sich in etwa dort befand, wo er Charlies Haus vermu­tet hätte. Man konnte noch erkennen, dass sich dieser Trakt im Neunziggradwinkel zu dem befunden hatte, auf dem Victor nun gerade hockte, nur war von ihm nur noch ungefähr die Hälfte übrig. Es sah aus, als hätte eine riesige Axt ihn in der Mitte durchgeschlagen. Die eine Seite war stehen geblieben, die andere in sich zusammengefallen.

»Wie konnte das passieren?« fragte er.

»So was passiert, wenn jemand eine Bombe auf ein Haus wirft.«

Sofort erinnerte er sich an den Sirenenalarm. Seine Oma hatte ihm erzählt von den Sirenen, die den nächsten Bombenangriff ankündigten und bedeuteten, dass man einen Luftschutzbunker aufsuchen musste. Ihm wurde kalt bei dem Gedanken. »Gibt es hier Krieg?« fragte er entsetzt.

»Im Moment nicht«, sagte Ralph. »Was siehst du noch?«

Zögerlich löste Victor seinen Blick von Ralph und schaute in die Richtung, wo sich in seiner Welt ein großer Park befand. »Wo ist der Stadtwald?« Hier standen mehrere dieser halbzerstörten Gebäude. Irritiert sah Victor wieder Ralph an und entdeckte dann hinter ihm etwas anderes. In weiter Entfernung konnte er den Kölner Dom sehen, nur … Er richtete sich ein wenig mehr auf. »Der Dom!« rief er. »Der hat nur eine Spitze!«

»Ja«, sagte Ralph. »Was siehst du noch?« fragte er wieder.

Victor drehte sich einmal langsam um seine eigene Achse. Sie waren hier auf dem höchsten Punkt in der näheren Umgebung, weshalb er einen guten Blick auf die Welt unter sich hatte. »Die Häuser. So viele sind kaputt. Waren das alles Bomben?« Er wartete die Antwort nicht ab. »Und sie sehen so grau aus. Alles sieht hier so grau aus. Warum ist das so?« Aber dann sah er schon wieder etwas anderes. »Da hinten, das Plakat, ich kann nicht lesen, was da draufsteht. Ist das diese alte deutsche Schrift?« Und schließlich entdeckte er auf der Straße zwei Männer in Uniformen, die einen ärmlich aussehenden Mann vor sich her schubsten. »Sind das da Polizisten? Warum sind sie so grob zu dem Mann?«

»Hast du genug gesehen?« fragte Ralph, statt zumindest eine von Victors vielen Fragen zu beantworten.

»Ich weiß nicht«, sagte Victor gedankenverloren. »Alles ist so anders hier. Es riecht sogar anders.« Und dann blieb sein Blick auf etwas hängen, das seine Aufmerksamkeit bannte. An einem Haus ein Stück die Straße hinunter hing eine Fahne. Sie war rot und bewegte sich ein wenig im leichten Wind. Plötzlich konnte Victor sehen, was sie im Zentrum auf weißem Grund zeigte: Es war ein Hakenkreuz.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte er atemlos.

»Lass uns zurückgehen. Dann werde ich dir alles erklären.«