Mehr Welten Jugendbuch: Schleuse in die Parallelwelten

Kapitel 1

der Schule?« fragte Frau Dr. Theisson und lehnte sich in ihrem Sessel zurück.

»Okay«, antwortete Victor und klang dabei, als wollte er sagen: Eigentlich nicht so toll, aber ich möchte nicht darüber reden.

Er saß ihr gegenüber in einem ebenso bequemen Sessel, doch nun, da sie das Wort Schule ausgesprochen hatte, versank der ohnehin schmächtige und etwas blasse Junge so tief in die Polster, als wolle er sich in ihnen verkriechen.

»Was war los?«

Frau Theisson ließ nicht locker, aber das gehörte zu ihrem Job. Sie war Victors Ärztin und Psychotherapeutin, die er jeden Dienstag nach der Schule aufsuchte, und das schon seit über einem halben Jahr.

»Die anderen haben gelacht«, brachte Victor schließlich einsilbig hervor und rutschte noch tiefer in seinen Sessel.

»Worüber haben sie gelacht?«

»Wir hatten heute Schwimmen.« Victor versuchte ein gequältes Lächeln.

Er besuchte die sechste Klasse eines Kölner Gymnasiums, das unter anderem deshalb von seinen Eltern ausgesucht worden war, weil es eine sportbetonte Schule war.

Sein Vater hatte das für eine gute Idee gehalten. Victor allerdings sah es anders. Für sportliche Aktivitäten war er einfach nicht geschaffen.

Immerhin aber lieferte dies immer wieder Themenstoff für seine Therapiestunde.

»Der Sportunterricht.«

Frau Theisson konnte sich vorstellen, was passiert war, und schenkte ihrem jungen Patienten ein aufmunterndes Lächeln.

»Wir sollten vom Einmeterbrett springen.«

»Und?«

»Die anderen sind gesprungen.«

Dr. Theissen machte ein mitfühlendes Gesicht. Erzählungen dieser Art hörte sie nun wirklich nicht zum ersten Mal.

»Du weißt, dass es viele Leute gibt, die nicht richtig schwimmen können?«

»Ja, aber das hindert sie nicht daran, vom Einmeterbrett zu springen.«

Dr. Theisson holte tief Luft. »Was hat dein Lehrer gesagt?«

Nun wurde Victor richtig betrübt. »Der hat gesagt, sie sollen mehr Rücksicht nehmen.« Erbost setzte er hinzu: »Ich hasse es, wenn sie das sagen.«

»Das stört dich«, sagte sie und dann äußerte sie noch nachdenklich: »Hm.«

Deprimiert schaute Victor aus dem Fenster. Natürlich wünschte er sich nettere, rücksichtsvollere Mitschüler, die nicht über ihn lachten, wenn er mal wieder nicht mit ihnen im Sportunterricht mithalten konnte oder wollte. Aber dass es immer erst die Erwachsenen sein mussten, die seine Mitschüler daran erinnerten, dass er einer besonderen Rücksicht bedurfte, das war so schrecklich für ihn.

Konnten sie nicht verstehen, dass er sich nichts mehr wünschte, als normal behandelt zu werden? Die Rück­sicht, die die Erwachsenen ihm zuteilwerden ließen, war nun mal die Rücksicht auf einen, der nicht normal war.

Er mochte Dr. Theisson wirklich gerne, sie war sehr nett zu ihm, vor allem roch sie immer sehr gut. Und obwohl sie nicht nur seine Ärztin, sondern auch seine Seelenklempnerin war, gaben die Besuche bei ihr ihm nicht das Gefühl, verrückt zu sein. Bevor er das erste Mal zu ihr gekommen war, hatte er wirklich geglaubt, verrückt zu sein, aber dann hatte sie ihm erklärt, dass das nicht sein Problem sei.

Was sein Problem war, fiel ihm schwer zu erklären. Frau Theisson hatte einmal versucht, es so in Worte zu fassen: ob er sich manchmal so fühle, ein Kopf ohne Körper zu sein. Im Prinzip hatten sie sich darauf einigen können, auch wenn es das noch nicht ganz traf. Tatsächlich fühlte er sich so, als sei er ein Verstand, ein Geist ohne Körper. Es war ihm, als gehöre sein Körper ihm nicht. Als wäre er ein seltsames Gerät, mit dem er nicht viel anzufangen wusste. Diese seine Hand oder dieses sein Bein, was sollten die für eine Funktion haben? Was sollte er mit dieser Hand oder diesem Bein überhaupt zu tun haben?

Sicherlich fühlte er sich nicht immer so. Die meiste Zeit blieb er von diesen Eindrücken verschont. Aber wenn er einmal anfing, darüber nachzudenken, dann konnte er kaum mehr damit aufhören. Wenn das eintrat, was bevorzugt abends im Bett passierte und ihn lange vom Einschlafen abhielt, manchmal aber auch entsetzlicherweise tagsüber in der Schule, dann überkam ihn fürchterliche Angst. Ein Teil dieser Angst hatte damit zu tun, gaga zu sein, plemplem, völlig verrückt und reif für die Klapsmühle. Erklärt zu bekommen, dass dieser unsagbare Zustand einen Namen hat, der nicht gleichbedeutend mit einer Krankheit ist, war für Victor eine Riesenerleichterung. Dissoziation, hatte Dr. Theisson ihm und seinen Eltern damals erklärt, sei etwas völlig Normales, eine durchaus gute menschliche Fähigkeit, die eine wichtige Funktion im Alltagsleben habe. Sich beispielsweise so sehr auf eine Arbeit konzentrieren zu können, dass man gar nicht merkt, wie die Zeit vergeht. Oder überhaupt zu automatisch ablaufenden Handlungen fähig zu sein – es gäbe überhaupt keine guten Autofahrer auf der Welt, wenn man über jeden einzelnen Handgriff wie das gleichzeitige Gangeinlegen, Blinker setzen, auf den Gegenverkehr achten, Lenkrad drehen und so weiter erst einmal nachdenken müsste. Aber auch wenn sein Vater mal wieder die ganze Familie aufscheuchte, den Haustürschlüssel zu suchen, den er doch gerade in der Hand gehabt und gedankenlos irgendwo abgelegt hatte, auch das wäre über Dissoziation zu erklären. Und Kinder, so hatte Frau Theisson weiterhin erläutert, würden in der Regel über besonders gute dissoziative Fähigkeiten verfügen, die sie als Verarbeitungsmöglichkeiten von Erlebnissen in Spiel und Phantasie nutzen.

Als dissoziative Störung würde man das Ganze erst dann bezeichnen, wenn es wie bei Victor zum Beispiel zu Gefühlen der Entfremdung von sich selbst kommt und dies in einer Intensität auftritt, die das Leben maßgeblich beeinträchtigt. Aber auch das hätte nichts mit Verrücktsein zu tun.

»Was wäre denn Verrücktsein?« hatte Victor sie damals schüchtern gefragt.

Freundlich hatte Dr. Theisson ihn angelächelt und, statt ihm eine Antwort zu geben, eine Gegenfrage gestellt: »Träumst du manchmal davon, wie es wäre, Supermann zu sein?«

»Ich wäre lieber ein Jedi-Ritter«, hatte Victor grinsend geantwortet, was seine Mutter dazu veranlasst hatte, schnell zu erklären: »Er liebt diesen ganzen Star Wars Kram.«

»Aber du weißt, dass du weder Supermann noch ein Jedi bist, oder?«

»Klar, das sind doch nur Geschichten.«

»Ja, das sind nur Geschichten. Und das ist der Unterschied. Wenn du wirklich überzeugt wärst, ein Jedi zu sein, und hier mit etwas, das dein Laserschwert sein soll, herumfuchteln würdest, das wäre verrückt.«

Darüber hatte Victor lachen müssen. Deshalb – und weil die Frau Doktor schon damals so gut roch – hatte er sich bereiterklärt, von nun an regelmäßig zu ihr zu kommen, um mit ihr zusammen herauszufinden, was der Grund für seine Entfremdungsgefühle war. So bekam er von ihr auch keine Tabletten. Ihre Medizin war es, mit ihm zu reden.

»Einen Grund gibt es immer«, hatte sie ihm erklärt. »Ich denke, dir ist irgendwann mal etwas passiert, das so schlimm für dich war, dass du es nicht verstehen und für dich bearbeiten konntest. Wir nennen so was ein traumatisches Erlebnis. Hast du eine Idee, was das bei dir sein könnte?«

Victor hatte keine, aber seine Eltern konnten da einen wesentlichen Ansatz liefern. Barbara und Hannes Schindler waren nämlich nicht Victors leibliche Eltern. Sie hatten ihn adoptiert, als er noch ganz klein war. Kurz nach seiner Geburt vor über zwölf Jahren war seine Mutter plötzlich gestorben und da sie den Namen von Victors Vater den Behörden nicht preisgegeben und selbst keinerlei Verwandtschaft mehr hatte, war Victor so von einem Tag auf den nächsten zu einer Vollwaise geworden.

Was für den noch sehr kleinen Jungen eine schlimme Tragödie war, wurde zum Glücksfall für Barbara und Hannes, die selbst keine Kinder haben konnten und dankbar waren, über die Adoption doch noch ein Kind bekommen zu haben. Und das hatten sie Victor Zeit seines Lebens auch immer so erzählt: dass er ihr Wunschkind sei. Frau Dr. Theisson hatte ihnen daraufhin erklärt, dass dies nun der erste Ansatzpunkt in ihrer gemeinsamen Arbeit werden würde. Da spiele es keine Rolle, dass Victor es als Baby erlebt und deshalb keine eigene Erinnerung daran hatte. Dieser Einschnitt in sein junges Leben konnte durchaus Einfluss auf sein heutiges Erleben haben. Schließlich hatte er dann noch einige Tests über sich ergehen lassen müssen, die sicherstellten, dass er mit seinen zwölf Jahren reif genug für diese Form der Therapie war.

Das war vor über einem halben Jahr gewesen und die vielen intensiven Gespräche über sein Dasein als Adoptivkind oder über den verhassten Sportunterricht oder über andere ihn belastende Geschichten aus seinem Leben hatten zu vielen Erkenntnissen geführt.

Aber all diese Erkenntnisse konnten über eines doch nicht hinweghelfen: Sein Geist verließ nach wie vor immer wieder seinen Körper. Allerdings empfand er dabei jetzt weniger Angst als früher und wusste sich auch besser selbst zu helfen, wenn es mal wieder so weit war.