Mehr Welten Jugendbuch: Schleuse in die Parallelwelten

Kapitel 9

Mitten im Raum stand Charlie, die nun ganz anders aussah als sonst. Statt ihrer Jeans, den Sneakers und einem der bekannten T-Shirts hatte sie ein altertümlich wirkendes Kleid an und geschnürte Kurzstiefel. Ihre Haare, sonst lang und offen, trug sie sehr streng zu einem Knoten gebunden.

Sie bemerkte ihn nicht, denn sie stand dort und sah aus, als wäre sie ein wenig benommen, regelrecht weggetreten. Fast glaubte Victor, sie etwas murmeln zu hören, aber dann entpuppte sich das Geräusch als etwas, das nur zum Teil von ihr ausging. Die andere Quelle fand ein Stück von ihr entfernt statt, ungefähr dort, wo sich die Wand befand, hinter der der Garten des angrenzenden Nachbargrundstücks lag.

Victors Blick wechselte rasch zwischen Charlie und dieser Wand hin und her. Passierte an dieser Wand etwas? Er konnte es nicht genau sagen, irgendetwas schien sich zu verändern, und doch war es so, als verändere sich etwas mehr in seinem Kopf als an der Wand. Victor verstand dies selbst nicht, bis, ja, bis ihn plötzlich dasselbe Gefühl überkam, das ihm zuletzt in der letzten Nacht den Schlaf geraubt hatte. Er spürte, wie einmal mehr sein Geist seinen Körper verließ. Doch diesmal war es irgendwie anders als sonst. Diesmal hatte er keine Angst dabei.

Und dann geschah es: Vor seinen Augen öffnete sich etwas, von dem er nicht wusste, was es war, was er aber augenblicklich als Schleuse zu benennen wusste. Dabei sah es nicht so aus wie eine Schleuse, jedenfalls nicht wie er sich noch vor Kurzem eine Schleuse vorgestellt hätte, wenn ihm jemand dieses Wort genannt und ihn aufgefor­dert hätte, sich ein Bild davon zu machen. Das, was er sah, ähnelte mehr dem, was ihm sein Vater einmal gezeigt hatte.

Sein Vater hatte nicht viele Hobbies, aber eines betraf die Fotografie. So besaß sein Vater eine Reihe von Fotoapparaten und wie das bei Vätern so ist: Ihr Lieblingsspielzeug zeigen und erklären sie gerne ihren Söhnen, selbst wenn die ihnen mit aller Ausdrücklichkeit versuchen klarzumachen, dass sie sich überhaupt nicht für dieses Lieblingsspielzeug interessieren. Nun aber wusste Victor, dass das, was sich vor seinen Augen in der vor ihm stehenden, eigentlich doch so massiv wirkenden Wand bildete, aussah wie die Irisblende der Spiegelreflexkamera seines Vaters.

In der steinernen Wand bildete sich plötzlich eine komplexe Struktur aus einer Vielzahl Lamellen, die im Kreis angeordnet waren und deren Enden auf den Mittelpunkt dieses Kreises zuliefen. Wie durch eine gemeinsame Mechanik gesteuert, drehten sich diese Lamellen langsam nach außen, sodass sie sich überlappten und sich dabei der Mittelpunkt kreisförmig öffnete. Ein Durch­gang war so geschaffen, breit genug, sodass zwei Menschen problemlos nebeneinander hätten hindurchgehen können.

Als wäre das Ganze nicht schon verrückt genug, öffnete sich die Schleuse aber nicht zum benachbarten Grundstück. Er sah nicht die Rasenfläche, die Bäume und Sträucher, die dort angepflanzt waren.

Was Victor sah, war ein dunkler Raum. Ein wie auch immer breiter, nicht allzu tiefer Raum, offensichtlich innerhalb eines Gebäudes, das es dort in Nachbars Garten nicht gab. Mit anderen Worten: Vor ihm öffnete sich eine seltsame Art Tür in ein Haus, das genauso wenig wie die Tür existieren konnte. War das alles nur ein seltsamer Traum?

Im ersten Moment fühlte sich Victor wie gelähmt. Was er hier erlebte, entsprach in keiner Weise auch nur irgendetwas, das er jemals zuvor erlebt hatte. Deshalb beängstigte es ihn und sein gesunder Menschenverstand, manch­mal auch bekannt unter dem Namen Angst, dessen Stimme Victor nur zu gut kannte, sprach zu ihm, so wie er es schon so oft getan hatte. Sprach zu ihm wie erst kürzlich, als er auf dem Einmeterbrett gestanden hatte und von seinen Mitschülern im Chor aufgefordert worden war zu springen. Seine Stimme war nicht nur vernünftig gewesen, sondern auch so beruhigend: »Sei kein Narr, du kannst nicht richtig schwimmen – spring nicht!«

Aber das hier war doch anders. Denn hier war noch eine andere Stimme in ihm. Es war, als gäbe es da einen kleinen Victor, dessen Bekanntschaft der große Victor noch nie zuvor gemacht hatte, von dessen Existenz er keine Ahnung hatte.

Dieser kleine Victor, der sich bislang so erfolgreich vor dem großen versteckt hatte, schob lässig die Vorhänge beiseite und betrat die große Bühne, schubste den gesunden Menschenverstand und die Angst beiseite und rief mit erstaunlich kräftiger Stimme:

»Auf geht’s! Los, hol dir den Spaß!«

Victors Blick fiel zurück auf Charlie. Sie ging mit starrem Blick auf die Schleuse zu. Ging nicht nur darauf zu, sondern ging hindurch.

Und Victor folgte ihr.

Auf der anderen Seite war es nicht nur dunkler als zuvor in der Garage, es war auch kälter, reichlich klamm dabei. Victor, der nur ein T-Shirt anhatte, fröstelte. Vielleicht fröstelte ihn aber auch nur, weil er Charlie gefolgt war, weil das alles hier mehr als verrückt war, weil er keine Ahnung hatte, wo er hier gelandet war oder wie es überhaupt dazu gekommen sein konnte, dass er hier gelandet war. Ein wenig entsetzt, aber auch neugierig schaute er sich um, sah allerdings nicht viel. Der Raum war ein Flur, sowohl rechter als auch linker Hand über viele Meter lang. Wohin es dort jeweils ging, konnte Victor in der Dun­kelheit nicht erkennen. Allein sah er, dass es zu allen Seiten viele große Türen gab, die meisten von ihnen geschlossen, sofern sie nicht nur halb in den Angeln hingen.

»Was machst du denn hier?« Charlie, die einen Schritt vor ihm gestanden hatte, hatte sich umgedreht und starrte ihn nun entsetzt an.

In dem Moment ertönte eine durch Mark und Bein gehende Sirene. Die Quelle dieses Sirenenklangs kam nicht von innerhalb des Gebäudes, soviel konnte Victor erkennen, dennoch war sie fast ohrenbetäubend und erschütternd. Entsetzt starrte nun Victor auch Charlie an und gemeinsam drehten sie sich um, suchten beide nach der Schleuse, durch die sie gerade hierhergekommen waren, von der nun aber nichts mehr zu sehen war.

Und nicht nur das. Hinter Victor gab es keine Wand. Das heißt, es gab schon eine Wand, aber sie war gut zwei Meter weiter hinter ihm, jedenfalls nicht dort, wo sie sich gerade noch befunden hatte, als er durch sie hindurchgegangen war.

»Wo ist die Schleuse?« wollte er Charlie fragen, aber bei dem Lärm konnte er kaum seine eigenen Gedanken verstehen.

Charlie griff mit einer Hand nach seinem Arm und bekam wieder diesen seltsamen Ausdruck, nur konnte er ihr diesmal ins Gesicht sehen. Sie hatte die Augen weit geöffnet und fokussierte einen Punkt irgendwo auf der zwei Meter von ihnen entfernten Wand. Irritiert und nunmehr voller Angst schaute Victor zwischen ihr und der Wand hin und her. Seine Augen hatten sich mittlerweile etwas besser auf die Dunkelheit eingestellt und ihm fiel auf, dass in die Wand ein Kreuz geritzt war und Charlie ebendieses fokussierte.

Trotz des Lärms der Sirene vernahm er wieder dieses andere Geräusch, das er vorhin noch glaubte als Charlies Murmeln erkannt zu haben. Vielleicht war es auch mehr ein Flirren, Victor wusste es nicht. Und mit dem Geräusch überkam ihn wieder dieses Gefühl, dass sich in seinem Kopf etwas veränderte, das Auswirkungen auf die Wand vor ihm hatte. Gleichsam löste sein Geist sich wieder von seinem Körper und vor seinen Augen entstand wieder eine Schleuse, die sich wie eine Irisblende öffnete.

Diesmal wurde er von Charlie mitgezogen – und landete mitten in der Garage, gut zwei Meter von deren Außenwand entfernt.