Mehr Welten Jugendbuch: Schleuse in die Parallelwelten

Kapitel 8

Am Nachmittag stand Charlie plötzlich in der Tür.

»Hallo«, sagte sie leise. »Magst du mich noch?« fragte sie und klang dabei ziemlich zerknittert.

Sie kam ins Zimmer und setzte sich auf sein Bett. Nahm sich den Löwen, der dort mittlerweile seinen Stammplatz hatte.

Victor, der an seinem Computer saß, schaute sie nur kurz an und sagte nichts.

»Maria hat gesagt, ihr hättet euch Sorgen gemacht, dass ich nicht bei mir zu Hause reinkomme. Du hättest mir meinen Schlüssel gebracht.«

Victor blieb weiter stumm.

»Ich bin nicht zu uns nach Hause gegangen.«

»Ist mir egal«, sagte Victor.

Charlie drückte das Stofftier an sich. »Tut mir leid, dass ich einfach so abgehauen bin. Das war nicht nett. Ich möchte mich entschuldigen.«

Victor dachte kurz darüber nach, dann ließ er von seinem Computer ab und drehte sich zu ihr um. »Ich hab gedacht, wir wären Freunde.«

»Sind wir doch auch!« rief Charlie und setzte dann leiser hinzu: »Es tut mir leid, wirklich. Aber ich musste gehen.« Ihr Blick war eine einzige Bitte um Verzeihung.

»Und warum?«

Nun dachte Charlie kurz über ihre Antwort nach. »Wegen dem, was wir da gestern gehört haben.«

Das verstand Victor nicht. Er schaute sie fragend an.

»Das haben wir doch gar nicht verstanden.«

»Ein bisschen was davon schon«, antwortete Charlie zu seiner Verwunderung.

»Wir haben ein paar Worte verstanden und die auch nur so halb. Aber wir haben doch nicht den Sinn verstanden! Ich hab es heute nachgeguckt, diese Nano-Sache und das mit dem Metamat, das ist doch alles total kompliziert und langweilig!« rief er.

»Pst! Nicht so laut!« zischte Charlie und setzte dann, weil Victor gekränkt dreinschaute, hinzu: »Das ist wirklich alles total kompliziert, aber du darfst darüber mit niemandem reden.«

Nun fiel Victor aus allen Wolken: »Was soll der Blödsinn? Meinst du, ich erzähle meinem Vater, dass wir ihn belauscht haben?«

»Nein, aber du darfst es auch sonst keinem sagen.«

»Aber warum denn nicht? Was soll denn daran so besonders sein? Es steht ja sogar in jedem Lexikon!«

Charlie schaute ihn sehr ernst an. »Victor, du musst mir versprechen, dass du niemandem jemals was davon sagst, okay? Das ist wirklich wichtig. Los, versprich es. Schwör es!«

Alles in ihrem Blick sagte, dass es ihr damit todernst war.

»Erst wenn du mir sagst, warum.«

»Das kann ich nicht.«

»Das ist blöd.«

»Nein, ist es nicht. Das ist total ernst. Schwör es!«

»Und wenn nicht, sind wir dann keine Freunde mehr?«

Darüber dachte Charlie kurz nach. »Nein, wir werden immer Freunde sein. Aber ich musste auch versprechen, dass ich mit niemandem darüber rede. Auch nicht mehr mit dir.«

»Das hast du geschworen?«

Charlie nickte.

Victor starrte eine Weile aus seinem Fenster.

Er dachte an seinen Alptraum letzte Nacht, in dem Charlie ihm das Leben gerettet hatte. Er dachte an die Dinge, die sie zusammen gemacht hatten, bevor sie auf die schwachsinnige Idee gekommen waren – bevor Charlie auf die schwachsinnige Idee gekommen war –, seinen Vater auszuspionieren.

Dann kam er zu dem Schluss, dass er Charlie nicht mehr missen und er sich wegen einer albernen Geschichte, die er sowieso niemandem erzählen konnte, mit ihr nicht streiten wollte. »Okay, ich schwöre«, sagte er schließlich.

»Danke«, sagte Charlie erleichtert.

Einzig blieb eine Frage: »Wem hast du es geschworen?«

Charlie wurde wieder ernst. »Das kann ich dir nicht sagen.«

»Demjenigen, dem du gestern Abend von dem Ganzen erzählt hast?«

»Du hast geschworen, mit niemandem mehr darüber zu reden. Das heißt, du darfst auch nicht mehr mit mir darüber reden.«

Dann legte sie den Stofflöwen beiseite und lächelte versöhnlich: »Und, was machen wir jetzt? Playstation, oder was?«

Tatsächlich spielten sie eine Weile mit der Playstation und schoben dann eine kleine Stärkung in der verwaisten Küche ein, denn samstagnachmittags hatte Maria frei.

Schließlich konnte Charlie ihren Freund davon überzeugen, wegen des schönen Wetters vielleicht doch mal wieder draußen zu spielen, was Victor dazu veranlasste, die Art des Spiels zu bestimmen: Inlineskaten. Allerdings besaß Charlie natürlich auch keine Inliner. Also lieh Victor ihr ein altes Paar, das ihm bereits zu klein geworden war.

Immerhin konnte Charlie Schlittschuhlaufen, sodass sie schnell mit den Skates zurechtkam, und so verging der Nachmittag wie im Flug.

Schließlich sagte Charlie, dass sie nach Hause müsse. Während sie die Skates gegen ihre Schuhe austauschte und dann ihre Sachen holte, die sie abends zuvor für die Übernachtung mitgebracht, aber nicht benutzt hatte, zog Victor in der untergehenden Sonne noch ein paar Kreise auf der Straße. Dabei dachte er darüber nach, dass Charlies Haus den ganzen Nachmittag über genauso unbewohnt ausgesehen hatte wie am Abend zuvor. Wie es eigentlich immer aussah. Außer nach ihrem ersten Treffen, als dort ein Mann, wahrscheinlich ihr Vater, auf sie gewartet hatte, hatte er noch nie jemanden hinein- oder herausgehen sehen.

Charlie hatte einmal gesagt, ihr Vater wolle nicht, dass sie Freunde mit nach Hause brachte. Warum eigentlich, fragte er sich nun. Der war doch sowieso nie zu Hause, was sollte es ihn stören? Ob es wohl ihr Vater war, dem sie hatte versprechen müssen, mit niemandem, noch nicht einmal mit ihm, über die Spionagesache zu sprechen?

Charlie kam aus dem Haus, ihre Tasche geschultert, und lief fröhlich winkend an Victor vorbei auf das verlassene Haus am Ende der Straße zu. Victor zog weiterhin seine Kreise, fuhr dann aber auf die Auffahrt zu seinem Haus und versteckte sich hinter der Hecke. So konnte er sie immer noch sehen, konnte aber nicht mehr von ihr gesehen werden. Tatsächlich drehte sie sich um und suchte die Straße nach ihm ab. Als sie ihn nicht entdeckte, ging sie statt zur Haustür am Haus vorbei und betrat durch eine Seitentür die zum Haus gehörende Garage. Und dort blieb sie.

Victor wurde neugierig und kam hinter der Hecke hervor. Warum ging sie in die Garage? Warum kam sie nicht wieder heraus? Seine Neugier wurde immer größer.

»Isst du mit mir zu Abend?«

Victor zuckte zusammen. Seine Mutter stand an der Tür und hatte ihn von hinten angesprochen.

»Dein Vater arbeitet heute mal wieder lange.«

»Wir haben vorhin was gegessen«, sagte er zerstreut und setzte dann zu seiner eigenen Überraschung hinzu: »Ich gehe noch ein bisschen mit zu Charlie. Ist das okay?«

»Ja«, antwortete seine Mutter, »aber nicht mehr so lange, in Ordnung?«

»Okay!« rief Victor und war schon auf seinen Inlinern unterwegs. Schnell hatte er den Weg zurückgelegt. Charlie war noch immer nicht aus der Garage wieder herausgekommen.

Als er dort ankam, schlich er das letzte Stück des Weges auf das kleine Fenster zu, das neben der Tür in den Garten zeigte, konnte aber nichts von dem sehen, was in der Garage vor sich ging. Zum Teil lag es daran, dass es drinnen viel dunkler war als draußen. Es lag aber auch daran, dass die Fensterscheibe vor Dreck nur so starrte.

Unschlüssig, was er nun tun solle, um seine Neugier zu befriedigen, schaute er sich um. Sein Blick blieb auf der Tür hängen. Sie war nur angelehnt, denn es fehlte ihr an einem Schloss. Leise ging Victor auf sie zu und öffnete sie einen Spalt.

Was er dann sah, verschlug ihm den Atem.