Mehr Welten Jugendbuch: Schleuse in die Parallelwelten

Kapitel 6

Mitten in der Nacht wachte er unvermittelt aus einem Alptraum auf. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, was er geträumt hatte, wusste nur sehr wohl, dass Charlie mitgespielt und ihm bei irgendetwas, das ihm große Angst gemacht hatte, zur Seite gestanden hatte. Was auch immer sie gemeinsam durchgestanden hatten, es war eine Welle der Angst, die durch seinen Körper flutete und ihn schließlich aus der Traumwelt holte.

Schweißnass lag er in seinem Bett und fühlte sein Herz rasen. Ein Bild formte sich vor seinem inneren Auge, eine dunkle Straße und Charlie, die ihn mit sich zog und ihm … das Leben rettete?

Das Bild verblasste wieder, Victor konnte es nicht festhalten. Er wusste nur, dass sie ihm im Traum bei etwas sehr Schlimmen geholfen hatte.

Nein, sie war einfach davongelaufen, nachdem sie seinen Vater ausspioniert hatten. Einfach stehengelassen hatte sie ihn, ohne eine Erklärung.

Dann überflutete ihn eine andere Panik: Er hatte vergessen, dass im Arbeitszimmer noch immer das Walkie-Talkie in dem Aktenvernichter steckte. Was, wenn sein Vater es entdecken würde? Was, wenn er es schon längst entdeckt hatte?

Sein Herz schlug noch schneller, er schnappte nach Luft. Und plötzlich war er da wieder, der Gedanke: Was ist das, das da so in meiner Brust hämmert?

Er fasste sich an die Brust und dachte, welch seltsames Konstrukt so eine Brust doch war. Konnte das ein Teil von ihm sein? Von seinem Körper, in dem er steckte, wo er aber gar nicht hingehörte? Und dann dieses Herz? Es schlug und schlug und schlug. Bei einem Zwölfjährigen, der sich gerade nicht aufregt, durchschnittlich fünfundneunzigmal pro Minute. Das macht fünftausendsiebenhundertmal in der Stunde, mehr als hundertdreißigtausendmal am Tag. Und das sollte etwas sein, das mit ihm zu tun hatte? Wer hatte sich das ausgedacht?

Einmal hatte er seine Mutter gefragt, wo das Leben eigentlich herkomme. Da hatte sie ihn erst verblüfft angesehen und dann ein wenig peinlich gelächelt.

»Aber das weißt du doch«, hatte sie gesagt, »das haben wir dir doch erklärt. Babys wachsen im Bauch ihrer Mutter.«

»Aber das meine ich nicht«, hatte er gesagt. »Ich meine, was ist der Sinn?« Ein besseres Wort war ihm nicht eingefallen.

»Du fragst nach dem Sinn des Lebens?« Da hatte sie angefangen zu lachen. »Das haben schon viele große Denker gefragt!« Und schließlich hatte sie noch hinzugesetzt, er könne ja mal seinen Religionslehrer darauf ansprechen.

Er hatte das aber nicht getan. Stattdessen hatte er nicht lange Zeit später seine erste Stunde mit Frau Dr. Theisson verbracht.

Sie hatte ihm beigebracht, wie er seine aufkommende Angst und Panik besiegen könne, hatte ihm Übungen zur Entspannung und Atemtechniken gezeigt. Diese waren nicht schwer auszuführen, wenn es einem gutging.

Wenn ihm aber wie jetzt sein Körper abhandengekommen war, wenn er wie jetzt über sich selbst zu schweben schien und eine zitternde Gestalt in seinem Bett liegen sah, dann war es sehr, sehr schwer, sich auf die Übungen und das Atmen zu konzentrieren. Die gewünschte Entspannung blieb jedenfalls aus.

Es dauerte noch lange in dieser Nacht, bis der Spuk vorbei und er wieder eingeschlafen war.