Mehr Welten Jugendbuch: Schleuse in die Parallelwelten

Kapitel 4

Von nun an trafen Charlie und Victor sich fast täglich. Wann immer er aus der Schule nach Hause kam, wartete sie bereits auf der Straße vor seiner Haustür auf ihn. Sie gingen dann immer zu ihm, bekamen von Maria einen Snack und verschwanden schnurstracks in Victors Zimmer, um dort die Playstation zu malträtieren.

Charlies Ehrgeiz und Begeisterung hatten sie mittlerweile richtig gut werden lassen, sodass die Matches immer heißer umkämpft wurden. Trotzdem gab es nie Streit zwischen den beiden. Vielleicht lag es daran, dass im Endeffekt beide gleich oft gewannen, vielleicht hatte es aber auch einfach etwas damit zu tun, dass Victor in Charlie endlich eine Freundin gefunden hatte, die rücksichtsvoll war, ohne dies von einem Erwachsenen vorher gesagt bekommen zu haben. Überhaupt war Charlie so ganz anders als alle anderen Kinder, die er bislang kennengelernt hatte.

Das fing schon damit an, dass die meisten Kinder in seiner Klasse aus wohlsituierten Verhältnissen kamen. Und selbst wenn ihre Eltern nicht so reich waren wie die von Victor, sah man ihnen den Unterschied kaum an: Die Jungs hatten alle Sneakers oder Rucksäcke namhafter Hersteller und die Mädchen konkurrierten sowieso untereinander mit den schicksten Klamotten und hübschesten Frisuren. Auf dem Schulhof war von Ballett- oder Reitstunden die Rede und die Jungs erzählten sich von dem letzten Besuch im Fußballstadion oder dem neusten Videospiel. Geld jedenfalls schien bei keinem eine große Rolle zu spielen, noch nicht einmal bei denen, die sich von Haus aus eben nicht wirklich alles leisten konnten.

Auch für Charlie spielte Geld keine Rolle, nur dass sie offensichtlich keins besaß. Nicht nur, dass sie sich das Buch bei ihrem ersten Treffen nicht leisten konnte, sie lief auch ständig in denselben Sachen herum. Victor war wahrlich nicht der Typ Junge, der auf so etwas achtete – umso bedeutsamer erschien es ihm selbst, weil es ihm aufgefallen war. Es war, als besäße Charlie genau ein Paar Schuhe, zwei Hosen und zwei T-Shirts, die sie im Wechsel anhatte und die allesamt billig aussahen. Auch ihre Bewunderung für seine vielen Spielsachen, die sie zum Teil noch nicht einmal kannte. Eine andere hätte vielleicht neidisch reagiert, wäre missgünstig gewesen.

Nicht so Charlie. Sie hatte offensichtlich nicht nur noch niemals an einer Playstation gesessen, sie hatte auch noch nie einen DVD- oder Blu-ray-Player bedient und schien beeindruckt von seinem Flachbildfernseher mit den vielen Programmen. Als er sie vorsichtig darauf ansprach, antwortete sie nur leichthin, dass sie zu Hause immer froh wären, wenn sie überhaupt ein Bild zu sehen bekämen. Allzu betrübt war sie deswegen jedenfalls nicht.

Das war auch schon viel von dem, was Charlie über sich erzählte. Fragen zu stellen machte ihr eindeutig mehr Spaß, als Antworten zu geben, und Zuhören konnte sie gleich noch besser. Inzwischen war sie, was den Schindlerschen Haushalt betraf, voll im Bilde. So wusste sie, dass Barbara und Hannes Victors Adoptiveltern waren, sie wusste, wie sehr er seine Teilnahme an den abendlichen Gesellschaften im Haus hasste, und sie hatte mittlerweile auch herausgefunden, warum eine Technikfirma Tauchanzüge herstellte.

Das wären nämlich keine handelsüblichen Tauchanzüge aus Neopren, hatte Victor ihr ein wenig stolz erklärt, sondern ganz spezielle aus einem sehr dünnen Material, das dafür sorgt, dass ihr Träger immer auf Körpertemperatur bliebe, egal wie kalt das Wasser wäre. Wie genau das sein könnte, konnte Victor ihr hingegen nicht erklären. Und wer sich solche Tauchanzüge denn kaufen würde, wusste er auch nicht. Wahrscheinlich irgendwelche Meeresbiologen, die in der Tiefsee forschten. Das Einzige, worüber sich Victor ausschwieg, war der Grund seiner wöchentlichen Therapiestunde. Zum ersten Mal behandelte eine Gleichaltrige ihn, als sei er völlig normal, und das wollte er sich nicht kaputtmachen, indem er ihr von seinem Anderssein erzählte.

Maria war Charlie ja nun schon vom ersten Moment an sympathisch gewesen. Natürlich war auch ihr aufgefallen, dass dieses Mädchen irgendwie anders war, im gewissen Sinne eigentümlich und fast auch ein wenig seltsam. Aber was hatte das schon zu bedeuten im Vergleich dazu, dass sie in dieses Haus Freude, Spaß und viel Lachen gebracht hatte. Trotzdem wollte Maria mehr über sie erfahren.

Aus Victor hatte sie nicht viel herausbekommen. Entweder weil er nicht mehr wusste oder – und das hielt sie bald für wahrscheinlicher – weil er nicht mehr erzählen wollte. Also hatte Maria heute einen Schokoladenkuchen gebacken und die Kinder aufgefordert, ihn mit ihr zusammen in der Küche zu verputzen. Victor hatte wie üblich nicht sehr begeistert reagiert, Charlie aber zeigte sich höflich und dankbar wie immer.

»Sag mal, Charlie, auf welche Schule gehst du eigentlich?« fragte Maria, als sie gemeinsam den Tisch ein­deckten. »Ich sehe dich immer schon auf der Straße, bevor Victor nach Hause kommt.«

»Wir haben nicht so viel Unterricht«, antwortete Charlie und fragte dann: »Wo soll ich die Gabeln hinlegen, rechts oder links vom Teller?«

»Egal«, antwortete Maria. »Victor hat gesagt, dass du bei deinem Vater lebst«, sagte sie dann wie beiläufig, als sie den Kuchen aufschnitt. »Wer passt denn tagsüber auf dich auf, wenn er arbeitet?«

Charlie lächelte charmant: »Das tun Sie doch. Kann ich ein Glas Milch haben, bitte?«

»Natürlich.« Maria war irritiert wegen dieser Antwort. Sie stand auf und holte ein Glas aus dem Schrank. »Ich frage nur, weil es bei euch noch so unbewohnt aussieht. Also, wenn dein Vater Hilfe braucht, dann würde ich jemanden kennen, eine Bekannte von mir, eine sehr nette Frau, die sucht gerade eine neue Anstellung.«

Sie schenkte Charlie die Milch ein. »Ihr Mann ist auch handwerklich sehr begabt, der arbeitet als Zimmermann.«

»Danke, das ist nett, aber wir kommen schon zurecht.«

Maria verteilte den Kuchen. »Was sagt denn deine Mutter dazu? Hätte die es denn nicht gerne ein bisschen gemütlicher?«

Charlie nahm einen Schluck von der Milch und schaute Maria schüchtern an. »Könnten Sie die auch warm machen?«

»Sicher.« Maria nahm das Glas und stellte es in die Mi­krowelle. Charlie beobachte das Ganze mit großen Augen.

»Ich meine nur, dass du vielleicht ein bisschen viel Zeit alleine verbringst«, führte Maria ihren Gedankengang fort. »Und dein Vater kennt uns doch gar nicht. Weiß er denn, dass du mit Victor befreundet bist?«

»Ja, natürlich. Ich erzähle ihm jeden Abend, was ich tagsüber gemacht habe.«

Dann zeigte sie auf die Mikrowelle. »Macht das Ding da die Milch wirklich warm?«

»Das ist eine Mikrowelle. Habt ihr so was nicht zu Hause?«

Nun mischte sich auch Victor, der sich bereits seinem Kuchenstück gewidmet hatte, in das Gespräch ein: »Sie haben auch keinen DVD-Player und einen Computer haben sie auch nicht.«

»Victor!« Maria schaute ihn streng an.

»Was? Stimmt doch, oder?«

Die Mikrowelle schaltete sich mit einem Ping aus und heraus nahm Maria die nun angewärmte Milch. Charlie nahm einen Schluck und lächelte. »Ja, stimmt. Wir haben solche Sachen nicht zu Hause. Aber meine Milch macht mir mein Vater trotzdem warm.«

Nun lächelte Maria. Auch sie war aufgewachsen in einem Zuhause, das sich keine technischen Spielereien leisten konnte – mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass zu ihrer Kinderzeit technische Spielereien wie Mikrowellen noch gar nicht erfunden waren – und hatte auch nichts vermisst. Dass es heutzutage aber noch Kinder gab, die inmitten einer technologisierten Welt mit weniger zufrieden waren als dem, was für andere völlig selbstverständlich geworden war, fand sie schon bemerkenswert.

Eine Weile schwelgten sie gemeinsam in einem Traum aus Schokokuchen, als Maria einfiel, dass Charlie ihr noch gar nicht die Frage nach ihrer Mutter beantwortet hatte. »Sind deine Eltern denn geschieden?«

»Nein«, gab Charlie knapp von sich, um dann das Thema gleich wieder zu wechseln.

»Darf ich mal das WC benutzen?«

»Aber sicher doch, Schätzchen. Du weißt ja, wo es ist.«

Kopfschüttelnd schaute sie dem Mädchen hinterher. Dann stand sie auf, um sich ihren Kaffee am Automaten nachzuschenken, während Victor sich bereits sein drittes Stück Kuchen nahm.

»Da ist kein Papier mehr.«

Maria zuckte zusammen. Völlig unbemerkt von ihr war Charlie zurückgekommen und hinter sie getreten. Erschrocken fasste Maria sich ans Herz.

»Mädchen, das darfst du mit einer alten Frau nicht machen! Gott, hast du mich erschreckt! Du bist ja bald wie der Finstere Gast!«

Das fand Victor offensichtlich sehr komisch, jedenfalls fing er an zu lachen, während Charlie diese Anspielung nicht verstehen konnte. »Wer ist der Finstere Gast?«

Victor lachte noch immer. »So nennt sie einen Geschäftspartner von meinem Vater. Manchmal nennt sie ihn auch den Schleicher.«

»Und warum?« fragte Charlie.

»Weil der immer so wie aus dem Nichts auftaucht, um plötzlich wieder zu verschwinden«, erklärte ihr Victor weiter fröhlich und zitierte dabei Maria.

»Hast du ihn schon mal gesehen?«

»Von dem sieht hier keiner viel«, mischte sich nun Maria wieder ein. »Sie verschwinden immer sofort im Arbeitszimmer von Victors Vater und dann dürfen sie nicht gestört werden. Ich muss immer vorher alles bereitstellen. Apropos«, sie fasste sich gedankenverloren an den Kopf, »das darf ich nicht vergessen …«

»Was?« fragte Charlie neugierig.

»Der Absinth ist fast alle. Ich muss morgen auf jeden Fall eine neue Flasche von diesem fiesen Zeug besorgen.«

»Absinth?«, nun wurde Victor neugierig. »Was ist das?«

»Alkohol, Schätzchen, nichts für deinen zarten Gaumen. Würde dir eh nicht schmecken. Und bekommen schon erst recht nicht.« Und dann verzog sie ihr Gesicht. »War schon gut, dass das Zeug lange Zeit verboten war. Da ist so viel Alkohol drin, das macht die Leute völlig plemplem.« Sie tippte sich an den Kopf.

»Und der Finstere Gast trinkt das?« fragte Charlie.

»Aber Papa doch nicht, oder?« warf Victor besorgt ein.

»Nein, dein Vater nicht. Aber der alte Schleicher schon. Und wenn der morgen kommt, dann muss ne volle Flasche da sein. Das muss ich mir gleich auf die Einkaufsliste setzen …«

Nachdenklich schaute Charlie ihr dabei zu.

»Was, meinst du, machen der Schleicher und dein Vater in seinem Arbeitszimmer?« Das Thema hatte es Charlie offensichtlich schwer angetan. Seit sie in Victors Zimmer waren, hatte sie nichts davon abhalten können, immer wieder auf den Absinth trinkenden Finsteren Gast zu sprechen zu kommen.

Sie lagen nebeneinander auf Victors Bett, Charlie den Stofftierlöwen umklammernd und noch immer auf ihrer Unterlippe herumkauend, und schauten auf den Fernseher, der Shrek zeigte. Victor hätte lieber etwas anderes gesehen, aber die meisten seiner Filme mochte Charlie nicht. Ihr war sogar Star Wars zu brutal. »Viel zu viele Kriegsszenen!«, hatte sie moniert. Shrek hingegen gefiel ihr, was sie aber nicht davon abhielt, während des Films ständig zu reden.

»Weiß nicht. Wollten wir nicht den Film gucken?«

»Hast du keine Lust, das herauszufinden?«

»Du hast doch gehört, was Maria gesagt hat: Keiner darf sie stören.«

»Aber wir müssen sie doch nicht stören. Wir könnten doch einfach lauschen.«

Nun hatte sie Victors Aufmerksamkeit: »Du willst meinen Vater ausspionieren?«

»Nicht deinen Vater. Den Schleicher.« Ihre Begeisterung für diese finstere Gestalt sprang ihr förmlich aus dem Gesicht.

»Wenn die uns erwischen, das gibt Ärger.«

»Dann dürfen wir uns eben nicht erwischen lassen.« Charlie grinste ihn breit an und zog dabei ihre Augenbrauen hoch. Wenn sie wollte, konnte sie schon wirklich komische Gesichter ziehen.

Victor dachte darüber nach. »Und wie willst du das anstellen? Das Arbeitszimmer hat zwei Türen hintereinander für Schallschutz, da hörst du nichts.«

»Du hast es schon mal probiert?«

»Klar. Ich wollte wissen, ob er drin ist.«

»Hm«, machte Charlie und schaute wieder eine Weile konzentriert auf den Fernseher. »Kann man sich nicht irgendwo im Zimmer verstecken? Da gibt es doch bestimmt einen Schrank, oder?«

Victor schaute sie an, als wäre sie ein bisschen bescheuert, und sprang dann unvermittelt auf.

»Ich glaube, ich hab hier was«, sagte er.

»Was meinst du?« fragte Charlie.

Victor ging zu einem seiner Regale, wühlte ein wenig in den Sachen und kam mit zwei Walkie-Talkies zurück. Triumphierend hielt er sie ihr hin.

»Was ist das?« fragte Charlie.

»Unsere Spionageausrüstung!« Victor reichte ihr eines der beiden kleinen Geräte.

»Voll letztes Jahrhundert, aber ich glaube, das könnte funktionieren.«

Charlie setzte sich auf und betrachtete das Teil, verstand aber immer noch nicht so ganz.

Also erklärte Victor ihr die Funktion: »Du musst es hier anmachen. Und wenn du da drückst, dann kann ich dich hören. Und wenn ich bei mir da drücke, dann kannst du mich hören. Pass auf.«

Er sprach in sein Walkie-Talkie: »Victor an Charlie: Kannst du mich hören?«

Charlie, die ihr Gerät noch gar nicht eingeschaltet hatte, schaute Victor, der vor ihr stand, verständnislos an.

»Klar kann ich dich hören.«

Verächtlich schnaubte Victor einmal und nahm ihr das Gerät aus der Hand, um es ihr eingeschaltet wiederzugeben.

Dann ging er aus dem Zimmer und schloss die Tür.  »Victor an Charlie: Kannst du mich jetzt immer noch hören?«

Begeistert starrte Charlie auf das Gerät. »Ja, ich kann dich hören!«

»Victor an Charlie: Du musst auf den Knopf drücken, sonst kann ich dich nicht hören!«

»Oh!« Nun betätigte Charlie den Knopf und die beiden führten eine Weile lang eine sehr sinnreiche Konversation, die zu weiten Teilen aus gegenseitigen Bestätigungen des einander Hörens bestand. Schließlich kam Victor wieder herein.

»Funktioniert doch super!«

»Schon«, sagte Charlie, »aber was ist, wenn dein Vater uns auch hören kann?«

»Kann er nicht. Wir kleben einfach bei einem Gerät den Knopf fest, dann kann es nur senden und nicht empfangen. Und wir drücken niemals auf den Sprechknopf, dann können wir alles hören, was gesagt wird.«

Charlie strahlte ihn an. »Genial!«

Nun strahlte auch Victor. »Nenn mich Null Null Sieben

Das allerdings verstand Charlie dann wieder nicht.