Mehr Welten Jugendbuch: Schleuse in die Parallelwelten

Kapitel 3

Das zweite Mal, da Victor seine neue Nachbarin traf, fand bereits am nächsten Tag nach der Schule statt. Das Mädchen, das noch nie etwas von Harry Potter gehört hatte, spielte alleine und mitten auf der Straße Hüpfekästchen.

Offiziell würdigte er sie keines Blickes und grunzte auch nur ein »Mädchenkram«, als sie ihm fröhlich zurief, ob er nicht mitspielen wolle. Insgeheim aber saß er kurz darauf an seinem Fenster und schaute ihr dabei zu, wie sie einen kleinen Stein in eines von mehreren auf die Straße gezeichneten Zahlenfeldern warf und dann recht gekonnt mal auf einem, mal mit beiden Beinen die durchnummerierten Felder hüpfte, ohne einmal dabei eine Linie zu berühren.

Wäre er ein wenig älter gewesen, hätte er benennen können, was ihm an diesem Anblick so gefiel. Er hätte gesagt, dass es ihre spielerische, natürliche Leichtigkeit war, die ihn faszinierte und die so ganz anders war als das, was er von den Mädchen in seiner Klasse kannte. Die waren entweder genauso unsportlich wie er oder setzten alles daran, besonders elegant oder graziös daherzukommen, was auf ihn dann meistens nur affig wirkte.

Aber da war noch etwas, das Victor auffiel, und dies konnte er benennen. Das Mädchen, das mitten auf der Straße mehrfach Autos ausweichen und deshalb ihr Spiel unterbrechen, ja sich sogar mehrfach einen neuen Stein besorgen musste, weil die Autos ihn überrollt hatten, dieses Mädchen sah genauso einsam aus wie er selbst.

Das war wohl der ausschlaggebende Grund, weshalb er am folgenden Tag nicht wieder naserümpfend an ihr vorbeiging, als er sie wieder nach der Schule alleine auf der Straße spielend antraf. Dieses Mal hatte sie einen Ball dabei und übte Dribbeln. Tatsächlich war sie nicht sehr gut im Dribbeln.

»Hallo«, sagte Victor schüchtern und schaute ihr einen Moment dabei zu.

»Hallo«, erwiderte sie und verlor prompt den Ball, der daraufhin auf Victor zurollte. Er nahm ihn auf, behielt ihn aber in der Hand, statt ihn ihr zurückzugeben.

»Warum spielst du alleine?« fragte er.

Das Mädchen dachte kurz über ihre Antwort nach. »Hier scheinen keine anderen Kinder zu wohnen und du willst ja nicht mit mir spielen, oder?«

Darüber dachte Victor kurz nach. »Stimmt nicht. Die Familie dahinten hat Zwillinge, aber die sind noch Babys. Und ich würde vielleicht schon mit dir spielen, aber nicht so was.«

Das Mädchen strahlte. »Was spielst du denn so?«

Victor zuckte mit den Schultern. »Kommt darauf an.«

»Okay«, sagte sie, nahm ihre auf dem Boden liegende Jacke auf und kam auf ihn zu, »wenn es Spaß macht, dann spiel ich das mit dir.«

Maria, die einmal mehr am Küchenfenster spioniert hatte, stand schon an der Tür, als Victor sie aufschloss.

»Hallo ihr zwei, kommt herein!« Sie ließ sich von den Kindern ihre Jacken und den Ball geben. Und diesmal sorgte sie selbst dafür, dass Victors Schultasche nicht mitten im Weg lag.

»Hallo«, antwortete das Mädchen und reichte Maria höflich die Hand zur Begrüßung. Ja, sie machte sogar einen kleinen Knicks dabei. »Ich heiße Charlotte, aber meine Freunde nennen mich Charlie.«

»Hallo Charlie!« Maria war ganz begeistert von der Höflichkeit dieses Mädchens. Als sie selbst noch ein Kind war, hatte sie auch gelernt, sich Erwachsenen mit einem Knicks vorzustellen, fand es damals aber albern. »Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen.« Dann lächelte sie Victor an. »Möchtet ihr beiden vielleicht eine Limo?«

»Gerne!« strahlte Charlie.

»Klar«, sagte Victor knapp und dann zu Charlie: »Komm, wir gehen auf mein Zimmer.«

Dort schaute sich Charlie staunend um. Der Raum war für ein Kinderzimmer wirklich groß und üppig ausgestattet. Neben dem üblichen Bett und einem Schrank gab es einen großen Schreibtisch, auf dem ein großer Monitor für den unter dem Tisch stehenden Computer stand.

Aber nicht genug, Victor hatte auch einen stattlichen Flachbildfernseher mit einem angeschlossenen DVD- und einem Blu-ray-Player sowie einer Spielkonsole. Und von der ganzen Technik abgesehen, platzte der Raum fast vor lauter Spielzeug jeglicher Art und einer Menge Bücher. Und trotzdem gab es noch genügend Freifläche, sodass sie hier fast hätten Fußball spielen können.

»Du hast aber ein großes Zimmer!« platzte es entsprechend aus Charlie heraus. »Und so viele Spielsachen!«

Begeistert lief sie auf das Regal mit den Stofftieren zu und entschied sich bald für einen kleinen Löwen, den sie in den Arm nahm. »Deine Eltern müssen ganz schön reich sein, wenn sie dir so viele Sachen kaufen können.«

»Ach ja«, sagte Victor ein wenig desinteressiert. »Sind halt nur Spielsachen von früher, als ich noch klein war.«

In dem Moment ging die Tür auf und Maria erschien mit einem Tablett.

»Ich dachte, ihr mögt doch bestimmt ein Eis, oder?«

Wieder strahlte Charlie, während Victor etwas zurückhaltender blieb.

»Lasst es euch schmecken«, sagte Maria und ging auch gleich wieder.

»Deine Mutter ist wirklich nett.« Charlie nahm sich einen der beiden Eisbecher und setzte sich auf den Fußboden.

»Sie ist nicht meine Mutter. Meine Mutter arbeitet.«

»Oh. Was arbeitet deine Mutter denn?«

»Sie hat eine Galerie.«

»Das heißt, sie stellt Bilder von irgendwelchen Künstlern aus und verkauft die für sie, oder?«

»Hm. Glaub schon.«

»Malt sie auch selbst?«

»Manchmal.«

»Und verkauft sie ihre Bilder dann auch?«

»Weiß nicht.«

»Hm. Und dein Vater, was arbeitet der?«

»Der hat ne Technikfirma.« Die Fragerei fing an, Victor zu langweilen. »Wollen wir ne DVD gucken?«

»Was machen die denn so in der Technikfirma?«

»Tauchanzüge. Wir können auch Playstation spielen. Ich hab ein ziemlich cooles neues Spiel.« Victor sprang auf und schaltete den Fernseher ein.

»Tauchanzüge? Hm.« Charlie schaute Victor nachdenklich an. Dann lächelte sie wieder. »Was ist denn das für ein Spiel?«

Nach einigem Hin und Her entschieden sie sich für ein Autorennen. Tatsächlich war es für Charlie das erste Mal, dass sie mit einer Playstation spielte, weshalb Victor ihr den Gebrauch erst einmal erklären musste und dann ein leichtes Spiel gegen sie hatte. Wirkte Charlie anfangs noch nicht so ganz begeistert, so entwickelte sie im Laufe der Zeit einigen Ehrgeiz, sodass es schließlich doch noch zu einer spannenden Auseinandersetzung wurde. Allerdings hatte das auch was damit zu tun, dass Charlie sich im wahrsten Sinne des Wortes ins Zeug legte. Wenn ihr Rennauto sich in die Kurve legte, tat sie es ihm gleich und lehnte sich zur Seite. Und wenn sie abbremsen musste, wich auch sie selbst zurück. Bei einer Überholaktion drehte sie sich sogar einmal zu Victor um! Und bei allem verzog sie immer wieder ihr Gesicht, als fürchte sie, ihr könnte mit ihrem Rennauto tatsächlich etwas passieren. Victor fand das alles so komisch, dass er sich immer wieder kaputtlachen musste und dabei ein wenig seine eigene Spielstrategie vernachlässigte.

Zwischendurch steckte Maria noch einmal ihre Nase herein und fragte, ob sie den beiden noch etwas Gutes tun könne, bekam aber kaum eine Antwort, so sehr waren sie vertieft in ihr Spiel. Das wiederum begeisterte die Haushälterin, die diesen Anblick bislang leider viel zu selten zu Gesicht bekommen hatte. So ermahnte sie Victor auch nicht, doch bitte an die Hausaufgaben zu denken, auch wenn die Zeit immer weiter voranschritt und es in ihrem Haushalt üblich war, dass erst die Arbeit erledigt wurde, bevor man sich dem Vergnügen hingeben durfte.

Schließlich war es Charlie, die sich wegen der Hausaufgaben verabschiedete. Nicht aber, ohne sich für den nächsten Tag mit Victor zu einer Revanche zu verabreden.