Mehr Welten Jugendbuch: Schleuse in die Parallelwelten

Kapitel 10

»Es gibt mehr Welten als diese«, sagte Charlie und setzte sich an den Küchentisch. Aus dem Kühlschrank hatte sie zwei Dosen Cola geholt und stellte eine nun vor Victor, der auf dem einzigen anderen Stuhl am Tisch Platz genommen hatte.

Nachdem die beiden zurück in der Garage angekommen waren und die Schleuse sich wieder geschlossen hatte, hatte Charlie Victor wieder an die Hand und mit in das Haus genommen.

Der unbewohnte Eindruck, den das Haus immer ausgestrahlt hatte, hatte nicht getäuscht. Wenn hier überhaupt jemand lebte, dann bevorzugte er einen höchst spartanischen Stil. Der Flur wurde einzig von einer vergilbten Blümchentapete und einer nackten Glühbirne geschmückt. Im Wohnzimmer lag eine große Matratze auf dem Boden, neben der eine Kommode stand. Und in der Küche befand sich neben dem Kühlschrank ein alter Herd und eine verdreckte Spüle sowie der Tisch mit den beiden Stühlen.

Inzwischen war Victor sich nicht mehr so ganz sicher, ob er das gerade Geschehene tatsächlich erlebt oder nicht doch einfach nur geträumt hatte. Definitiv war er froh, nicht länger auf seinen Inlinern stehen zu müssen.

»Was meinst du damit, es gibt mehr Welten als diese?« fragte er und merkte dabei, dass er einen ganz trockenen Mund hatte.

Er griff nach der Coladose, öffnete sie und trank ein paar Schlucke.

»Ich werde dir erzählen, was ich weiß«, sagte Charlie und schaute dabei sehr erst drein. »Aber vorher musst du mir schwören, dass du niemals mit jemandem darüber sprichst.«

Diesmal diskutierte Victor nicht lange.

»Ich schwöre«, sagte er feierlich.

»Das, was du gerade gesehen hast, ist die Welt, in der ich lebe«, sagte Charlie und machte dann eine kurze Pause, um Victor die Möglichkeit zu geben, ihre Worte sacken zu lassen. Der aber schaute sie nur mit großen Augen an. »Bei uns ist es nicht so viel anders als hier, also ich meine, es ist schon sehr anders, aber … Ich wohne auch in einer Stadt, die Köln heißt, und unser Köln liegt auch am Rhein in Deutschland auf einem Kontinent namens Europa, wenn du verstehst, was ich meine. Aber sonst ist viel anders.«

»Du meinst, du kommst nicht aus einem Zauberreich mit Königen, Drachen und Schwertern oder so?«

Charlie kicherte. »Nein, kein Zauber.«

Victor überlegte kurz. »Dann war das gerade eine Zeitreise?«

»Nein, keine Zeitreise! Und auch kein Ortswechsel. Es war …«

»Aber ich war woanders, an einem anderen Ort!« fiel Victor ihr ins Wort.

»Du warst in einer anderen Welt, aber nicht an einem anderen Ort

»Das verstehe ich nicht.«

Charlie dachte kurz darüber nach, wie sie es erklären sollte.

»Die Straße hier, die gibt es auch bei uns. So wie den Stadtteil und eben auch die ganze Stadt. Es ist nur so, dass hier, wo dieses Haus und die Garage stehen, da steht bei uns ein anderes Gebäude. Du hast es gesehen, du warst drin.«

»Es steht auch auf dem Grundstück eurer Nachbarn«, sagte Victor, als wäre diese Erkenntnis ein wesentlicher Beitrag.

»Ja, genau. Es ist ein stillgelegtes Fabrikgebäude, das ist viel größer als dieses Haus und die Garage hier.«

»Und da wohnst du.«

»In dem Fabrikgebäude? Nein, wir wohnen in einem ganz normalen Haus in einem anderen Stadtteil. Aber meinem Vater gehört wirklich dieses Haus hier. Also, er hat es gemietet«, korrigierte sie sich.

»Er wohnt hier?« Victor warf einen Blick durch die Küche.

»Wenn er hier ist, schon.«

»Aber du wohnst in diesem anderen Köln.«

Charlie nickte. »Mit meiner Mutter. Und mit meinem Vater, wenn er bei uns ist.«

»Das klingt alles ziemlich verrückt.«

Charlie lächelte ihn an. »Ich weiß«, sagte sie und wurde dann wieder ernst. »Deshalb hättest du es auch nicht sehen sollen.«

»Was meinst du? Die Schleuse?«

Charlie stutzte. »Du hast sie gesehen?« fragte sie überrascht. »Woher weißt du, dass wir es so nennen?«

»Ich weiß nicht. Sieht halt so aus.«

»Was genau hast du denn gesehen?«

Victor sagte es ihr. Beschrieb ihr die Schleuse und erklärte ihr, dass sie aussah wie eine Irisblende. Charlie hörte ihm sehr ernst zu, ohne ihn einmal zu unterbrechen.

Als er fertig war, sagte sie: »Normale Leute können die Schleuse nicht sehen.«

Das ließ Victor zusammenzucken. »Normale Leute … Meinst du, ich bin nicht normal?« fragte er aufgebracht.

Charlie, die sich seine Aufgebrachtheit nicht erklären konnte, schlug einen versöhnlichen Ton an.

»Ich meine, dass es nur wenige Menschen gibt, die Schleusen öffnen können. Und nur die können sie auch sehen.«

»Und die anderen, was sehen die?«

»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich, wie jemand durch eine Wand läuft oder einfach im Nichts verschwindet.«

»Das ist verrückt«, wiederholte Victor.

»Deshalb darf man auch keine Schleuse aufmachen, wenn jemand in der Nähe ist. Ich hätte besser aufpassen müssen.«

Sie schauten einander eine Weile lang an. Während Charlie sich fragte, wie sie Victor etwas erklären sollte, das doch eigentlich kaum zu verstehen war, hatte Victor tausend Fragen im Kopf, von denen er nicht wusste, welche er zuerst stellen sollte.

Schließlich kam Charlie ihm zuvor. »Mein Vater, also mein richtiger Vater, der war auch ein Weltenwanderer. Meine Mama kann es nicht, aber ich habe es von meinem richtigen Vater geerbt. Er ist gestorben, als ich noch ziemlich klein war.«

Victor schüttelte den Kopf. »Der Mann, der hier lebt, ist gar nicht dein Vater?«

»Doch, er lebt mit uns zusammen. Ich finde, er ist der beste Vater, den man haben kann.« Und dann setzte sie hinzu: »Ich werde es ihm sagen müssen.«

»Was? Dass ich mit dir in dieser anderen Welt war?«

»Vielleicht weiß er, wie das sein kann.«

»Wie hast du deinen richtigen Vater genannt? Einen Weltenwandler?«

»Einen Weltenwanderer.« lachte Charlie und setzte dann wieder ernst hinzu: »Davon gibt es nicht so viele. Ich meine, man kann es nicht lernen oder so. Man kann es nur erben.«

»Habe ich es dann auch geerbt?« Victor wurde ein bisschen komisch bei der Vorstellung.

Charlie zuckte mit den Schultern. »Was weißt du über deine echten Eltern?«

»Nichts«, antwortete Victor traurig. »Meinst du, sie waren auch solche Wanderer?«

»Keine Ahnung.« Sie schaute ihn mitfühlend an. »Du hast aber doch nette Adoptiveltern«, setzte sie hinzu und schaute dann plötzlich so, als wäre ihr gerade etwas eingefallen, das ihre Worte Lügen strafte.

»Was ist?« fragte Victor, dem dieser Gesichtsausdruck nicht entgangen war.

Charlie schüttelte den Kopf. »Nichts. Ich muss jetzt auch los«, sagte sie und stand auf. »Es wird bald dunkel, ich muss nach Hause.«

»Auf die andere Seite? Aber da war doch diese schreckliche Sirene!« rief Victor. »Was bedeutet die eigentlich?«

»Das war wahrscheinlich nur ein Probealarm«, sagte Charlie abwehrend. Offensichtlich wollte sie dieses Thema nicht weiter vertiefen. »Ist bestimmt schon vorbei. Lass uns gehen.«

Widerstrebend stand nun auch Victor auf. »Aber … Aber du hast mir noch gar nicht alles erzählt. Ich würde gerne noch wissen …«

»Ich kann dir nicht mehr erzählen«, unterbrach Charlie ihn. »Ich muss erst mit meinem Vater reden, okay?«

Victor zuckte enttäuscht mit den Schultern.

»Und du darfst wirklich niemandem davon erzählen, du hast es geschworen!«

Victor nickte.

Zusammen verließen sie das Haus. Charlie machte sich auf den Weg zurück in die Garage, während Victor zur Straße ging. Doch dann drehte er sich noch einmal und machte ein paar Schritte auf Charlie zu. »Warum machst du es in der Garage? Im Haus würde dich doch auch keiner sehen.«

Charlie dachte über die Erklärung kurz nach. »Es ist kompliziert. Da, wo hier das Haus steht? Das Fabrikgebäude auf der anderen Seite wurde stillgelegt, weil es nicht mehr so ganz in Ordnung ist. Aber wo hier die Garage steht, ist es dort sicher.«

»Und wo hier das Haus steht, ist es dort nicht sicher?«

Charlie nickte.

»Und warum?«

»Der Krieg und die Aufstände«, antwortete Charlie knapp. »Ich muss jetzt los.« Und als sie Victors fragendes Gesicht sah, setzte sie hinzu: »Wir sehen uns morgen?«

Victor schüttelte den Kopf. »Wir fahren zu meiner Oma.«

»Schade.« Nun wirkte Charlie enttäuscht. »Dann aber Montag, ja?«

Damit verschwand sie in die Garage und von dort, so wusste Victor nun, in eine andere Welt, in der ein Krieg und Aufstände dafür sorgten, dass Gebäude nur noch zur Hälfte sicher waren.